Herfried Münkler über die NSA-Affäre: „Mit Jammern ist es nicht getan“

Deutschland braucht einen mächtigen Geheimdienst, sagt Staatstheoretiker Herfried Münkler. An den Schnüffeleien der NSA sei Europa selbst schuld.

Eine Situation der Ohnmacht: „Deutschland ist abhängig von der Spähtechnologie der Amerikaner.“ Bild: imago

taz: Herr Münkler, ich wollte mal hören, ob alles in Ordnung ist.

Herfried Münkler: In welcher Hinsicht?

Die NSA, das Kanzlerhandy, die Weltlage halt.

Nur weil das Handy von Frau Merkel abgehört wurde, hat sich ja die Weltlage noch nicht verändert.

Also alles so weit in Ordnung.

Nein. Wir sehen gerade, dass es nicht in Ordnung ist, wie die Deutschen und die Europäer von amerikanischen Fähigkeiten abhängig und wie sehr sie ihnen ausgeliefert sind.

Wie meinen Sie das?

Wer mit den USA in ein Verhältnis eintreten will, das durch Respekt gekennzeichnet ist, muss auch etwas haben, das Respekt verdient. Derzeit wird uns ein No-Spy-Abkommen angepriesen, bei dem die Voraussetzung offenbar ist, dass Deutschland nicht über die technischen Fähigkeiten verfügt, zu überprüfen, ob es auch eingehalten wird.

Was würden Sie besser machen?

Wer mit den USA auf Augenhöhe reden will, müsste im Prinzip die Möglichkeiten haben, auch Herrn Obama abzuhören – jedenfalls solange die USA die Fähigkeit haben, Politik und Wirtschaft in Europa auszuspähen.

Jahrgang 1951, Staatstheoretiker und Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viel beachtet wurden seine Theorien über politische Imperien, asymmetrische Kriegführung und die „Neuen Kriege“ – aber auch seine Kritik zu Wikileaks.

Das hört sich ja nach Kaltem Krieg an.

Deutschland befindet sich in einer Situation der Ohnmacht. Das Land ist abhängig von der Spähtechnologie der Amerikaner. Und dass die Kanzlerin abgehört wird, hat die deutsche Spionageabwehr nicht verhindert. Sie hat es offenbar nicht einmal gewusst. Nicht Deutschland allein, aber Europa insgesamt muss in zentralen Fragen strategische Ziele formulieren können, ein strategisches Bewusstsein und strategische Fähigkeiten entwickeln. Es wird im 21. Jahrhundert weltweit vier oder fünf handlungsfähige Mächte geben, und die Europäer sollten ein Interesse daran haben, dabei zu sein und nicht überall betteln gehen zu müssen.

Sie sagen, es braucht eine europäische NSA?

Im Prinzip ja: Der Verzicht auf bestimmte Fähigkeiten ist nur dann überzeugend, wenn man diese Fähigkeiten überhaupt hat. Ein Schwächling, der auf dem Schulhof den stärkeren Jungs großzügig anbietet, sie heute einmal nicht zu verhauen, ist nur eine Witzfigur, eine Karikatur.

Stärke bemisst sich doch nicht nur in den Mitteln der anderen. Stünde es Europa nicht gut an, sich auf ein Projekt der Bürgerrechte, der sicheren Infrastruktur, der digitalen Grundrechte zu besinnen? Kurz, ein Europa der Abwehr statt des Angriffs?

Sie können hier nicht einfach defensiv und offensiv trennen. Wer in der Quantenkrypthografie ein paar Schritte nach vorn gemacht hat, weiß auch, wie er andere knackt. Die Idee einer Nichtangriffsfähigkeit ist ja nicht verkehrt, aber als Beiprodukt wird immer die Angriffsfähigkeit mit herauskommen.

Sie sehen die Hauptfehler bei den naiven Deutschen. Warum tun sie sich so schwer damit, zu sagen: Das massenhafte Ausspähen durch US-Geheimdienste ist ein Angrif auf das Grundgesetz?

Meinetwegen. Aber mit Jammern und Klagen ist es nicht getan. Man muss auch in der Lage sein, das Grundgesetz zu schützen. Es geht dabei um ein größeres Problem: Es stellt sich heraus, dass der mit dem Grundgesetz eng verbundene Leitbegriff der nationalen Souveränität hier ebenso schwach ist wie in Fragen der Währung oder der Verteidigung. Rechtsgeltung und Territorialität sind entkoppelt. Daraus folgt, dass es Antworten darauf braucht, wie wir in Europa ein Souveränitätsparadigma erweitern, das noch immer an die historische Situation anknüpft, in der die Territorialstaaten das Maß aller Dinge waren.

Waren Sie denn gar nicht überrascht vom Ausmaß der weltweiten US-Spionage?

Ich wäre eher überrascht gewesen, wenn die USA nicht alle Möglichkeiten nutzen würden, die sie haben. Wir mussten schon immer davon ausgehen, belauscht zu werden. Im 16. und 17. Jahrhundert haben die Venezianer die Mechanismen und Organisation der Wissensgewinnung und -speicherung kultiviert, um sich gegenüber ihren Gegnern – den europäischen Territorialstaaten oder dem Osmanischen Reich – gewisse Wissensvorsprünge zu sichern. Sie begannen, ihre Botschafter und Gesandtschaften mit Instruktionen auszustatten, um Wissen über Land und Leute, über die Ressourcen und Absichten ihrer Gegner zu bekommen. Als ein relativ schwacher Akteur waren sie darauf angewiesen, mit einer gewissen Sicherheit antizipieren zu können, welche strategischen Züge die andere Seite macht und machen kann.

Haben die Venezianer auch ihre Bevölkerung überwacht?

Ja. Berühmt ist der Briefkasten für anonyme Denunziationen. Soziale Kontrolle wurde in politische Kontrolle verwandelt. Die Privatsphäre ist erst eine bürgerliche Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Die Erfindung der Rasterfahndung in den 1970er Jahren war in mancher Hinsicht ein Substitut dafür, dass in der Anonymität der Wohnsilos diese herkömmliche soziale Kontrolle weggefallen war. Wir sollten also nicht überdramatisieren, was wir heute betrachten. An die Stelle der sozialen sind technische Kontrollagenturen getreten.

Heute hätten viele Menschen gern ein echtes Recht auf die Verschlüsselung ihrer Daten.

Sie haben doch jedes Recht, sich ein verschlüsseltes Handy zu kaufen.

Das kostet 2.500 Euro, nervt in der Handhabung, und es lassen sich nur Leute anrufen, die auch so ein Ding haben.

Warum haben die Russen 1914 die Schlacht bei Tannenberg verloren? Weil sie ihre Informationen nicht chiffriert haben. Warum haben sie nicht chiffriert, obwohl sie Chiffriergeräte hatten? Weil sie auf der Divisions- und Regimentsebene keine Bücher zur Dechiffrierung hatten. Deshalb mussten die Befehle offen gegeben werden. So wusste die deutsche Seite über die Operationen der Russen Bescheid. Ähnlich ist es heute. Sie können sich ein Kryptohandy kaufen, aber es wird nur wenige geben, mit denen sie dann kommunizieren können. Das Problem ist nicht, dass sie es nicht haben können. Das Problem ist Ihre Präferenzentscheidung. Wie viel Geld wollen Sie ausgeben, um sich zu schützen? Und auf wie viele Kontakte wollen Sie verzichten?

Es könnte doch eine staatspolitische Aufgabe sein, diese Technologie massenkompatibel zu machen, also Standards zu formulieren, die einen echten, materiellen Rechtsschutz gewähren, damit meine Verfassung auch etwas wert ist.

Dann muss der Steuerzahler finanzieren, dass man keine Präferenzentscheidung treffen muss. Verschlüsselung hat Kosten: Geld und soziale Kontakte. Ich selbst etwa will gar keine verschlüsselte Kommunikation. Wenn ich wirklich etwas Wichtiges besprechen will, dann kann ich das in geeigneten Formen tun, etwa persönlich.

Ich übersetzte mal: Es ist NSA-Skandal und Sie sagen: „Gebt uns keine Briefumschläge, uns reichen Postkarten!“

Nein, jeder hat das Recht, seine Kommunikation zu verschlüsseln. Wieso sollte der Staat das zur Pflicht machen?

Vielleicht weil es nötig ist.

95 Prozent unserer Handykommunikation ist Informationsmüll. All die Gespräche, die ich in der U-Bahn höre, muss kein Mensch verschlüsseln. Die Leute sprechen so laut, dass der ganze Waggon es versteht. Und was die Leute da sagen, ist zumeist banal, überflüssig und Zeitverschwendung. Jeder Euro zum Schutz dieser ausgetauschten Informationen wäre rausgeschmissenes Geld. Wir würden in einen teuren Rüstungswettlauf eintreten für nichts. Strategisches Denken ist Konzentration auf zentrale Ziele bei begrenztem Ressourceneinsatz. Wir sollten das schützen, was als Geheimnis wirklich wertvoll ist.

Sie geben die Schuld den Einzelnen und vertrauen darauf, dass die USA artig mit den Daten umgehen.

Nein, das läge mir völlig fern. Die USA haben ihre eigenen Interessen. Unsere sind damit nicht identisch. Aber ich will darauf hinweisen, dass die Folgen, die wir derzeit spüren, auch ein Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Gleichgültigkeit in Europa sind.

Was ist nicht totalitär daran, dass der private Kommunikationsbereich jedes Menschen von einer Behörde überwacht, protokolliert und nach Belieben gespeichert werden kann?

Im strengen Sinn wäre es totalitär, wenn die Behörde daraus Steuerungsmechanismen entwickelt, um uns in unseren Meinungen und Verhaltensweisen zu lenken und zu kontrollieren. Die alten totalitären und posttotalitären Staaten haben über den Leib zugegriffen. Dissidenz wurde mit Repression beantwortet. Wir haben es hier mit etwas anderem zu tun. Die Überwacher müssen den Körper nicht mehr erledigen, um den Willen zu erledigen.

In Ihrer Theorie nennen Sie vier Kriterien für ein Imperium. Die Herrschaft über das Netz gehört nicht dazu.

Sie ist aber ein wesentliches Element imperialer Macht. Darin sind Elemente ökonomischer, kultureller und politischer Macht gebündelt. Es geht dabei auch um die Frage, was im 21. Jahrhundert eine Waffe ist. Und was die Räume sind, die man kontrollieren muss, um Herrschaft auszuüben. Darüber muss man nachdenken, wenn man aus der NSA-Affäre lernen will. Die selbstverliebten Jammerer dagegen haben schon aufgegeben, sich und ihre Rechte zu verteidigen. Sie wissen nämlich nicht, was verteidigen ist. Aber darum geht es. Sie können Spähstrategien als Kompensation für Kriegsstrategien verstehen. Wir könnten auch hämisch sagen: Das ist die wahre Humanisierung des Krieges.

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