Grüne nach der Wahlniederlage: Das alte Manko Schwammigkeit

Nirgends suchen die Grünen so intensiv nach Gründen für ihre Niederlage bei der Bundestagswahl wie in Bremen. Die sind freilich schwer fassbar.

Anja Stahmann (Die Grünen) bemüht fürs schlechte Wahlergebnis auch mal Wetter-Metaphern. Bild: dpa

Für Bremen ändert sich nichts. So viel scheint klar, und dafür gäbe es auch gar keinen Grund: Am Montag bereits haben die Grünen „alle Mitglieder und Interessierten“ zur Aussprache über das Bundestagswahlergebnis eingeladen, als erster Landesverband überhaupt. Und nirgends, nicht mal in Baden-Württemberg, wo das Ergebnis ja im Vergleich zur Landtagswahl noch drastischer einbrach, diskutiert die Partei so intensiv das eigene Verwelken bei der Bundestagswahl, nirgends sucht sie so beflissen nach Gründen dafür.

Nur hier: alle Gerechtigkeits-Komposita des grünen Bundestags-Wahlprogramms.

In alphabetischer Reihenfolge:

altersgerecht, alternsgerecht,

artgerecht,

bedarfsgerecht, bildungsgerecht,

chancengerecht,

fachgerecht, frauengerecht,

geschlechtergerecht,

globalgerecht, jugendgerecht,

kindgerecht, klimagerecht,

sachgerecht, sozialgerecht,

steuergerecht, teilhabe(gerecht), tiergerecht, ungerecht,

verbrauchergerecht,

verteilungsgerecht, zentralgerecht, zielgruppengerecht.

Dabei lässt sich das Grünen-Ergebnis auch beim bestem Willen nicht als Quittung für die Landespolitik lesen, wie Kristina Vogt (Die Linke) in der jüngsten Bürgerschaftsdebatte suggeriert hatte: Im Gegenteil, die Verluste liegen im Durchschnitt – und nur leicht unter dem Mittel der Abgänge in anderen Öko-Hochburgen. Auch bei den Mitgliederzahlen hatte es vorab keine dramatischen Bewegungen gegeben, „da stagnieren wir seit zwei Jahren“, sagt die Landesvorsitzende Henrike Müller. Und trotzdem: Schon diesen Montag sind alle Bremer „Mitglieder und Interessierten“ zwecks Nachbereitung ins Konsul-Hackfeld-Haus geladen, ab 19.30 Uhr.

Und in der Rubrik „Die Meinung am Freitag“, in der die Redakteure der Partei-Homepage beinahe jede Woche einen Kommentar aus dem Inneren der grünen Körperschaft publizieren, drängen sich seither die Beiträge: Acht mehr oder minder prominente örtliche Grüne haben sich dort schon geäußert, auch wenn – oder vielleicht gerade weil – klar ist, dass die wahren Gründe der Niederlage nicht wirklich fassbar sind: Denn, klar habe „jeder anekdotisch mal den Veggie-Day, mal das Pädophilie-Thema, mal die Steuerfrage“ genannt bekommen, sagt Matthias Güldner, grüner Fraktionsvorsitzender in der Bürgerschaft. Aber „es gibt keine Untersuchungen, die konkrete Gründe für das Nichtwählen der Grünen benennen“. Wo Empirie nicht möglich ist, wird Denken spekulativ.

In der Politik aber führt das dazu, dass jeder an die Leerstelle der vermeintlich gesuchten Ursache je nach Gusto schon lange definierte Defizite setzen kann: Er muss es nur mit genügend Überzeugungskraft als bedeutendes Problem bestimmen. Und so eröffnet sich ein Feld für den Kampf um Richtung und Form. Der tritt als Analyse verkleidet auf, aber letztlich geht’s weniger um Erkenntnis als die gerade bei den Grünen eher verschämt gestellten Fragen der Macht. Oder, weil es weniger anrüchig klingt, um die Deutungshoheit. Das lässt sich an den Äußerungen ablesen. Es herrscht eine metaphernreiche Sprache, und anstelle argumentativer Stärke überzeugt das Sprachbild, indem es schlau klingt.

So bemüht Marieluise Beck, alte und neu gewählte grüne Bundestagsabgeordnete, das sprachliche Bild von „kommunizierenden Röhren“, um das Verhältnis von SPD, Linken und Grünen zu problematisieren. Und dort, wo sie auf den erheblichen Abfluss von Stimmen an die CDU zu sprechen kommt, setzt sie halt einfach nur ein Ausrufezeichen: „Wenn wir“, bedrängt sie sodann ihre Mitgrünen, „diese Botschaft nicht verstehen, dann sind wir nicht zu retten.“

Sozialsenatorin Anja Stahmann dagegen nutzt eher trübe Wetter-Metaphern: Bei ihr folgt auf Sonne Regen und vice versa, der Hahn kräht auf dem Mist und auch der heilige Petrus tritt auf: „Politik machen heißt“, definiert Stahmann schließlich, „immer einmal mehr aufstehen als umgeworfen werden.“ Immerhin, das kommt an: Eine Leserin behauptet, die Anja habe es damit „auf den Punkt“ gebracht. Ein anderer postet, es gehe halt nicht mit Intellekt allein. Und vielleicht meint er’s gar nicht ironisch.

Die Schwammigkeit ist tatsächlich ein altes Manko. Und vielen ist beim Wahlprogramm der Kragen geplatzt. Als viel zu detailliert, schwer erklärbar und öffentlich umdeutbar hat es Hermann Kuhn, mit Müller Parteivorsitzender, bezeichnet, „zu sehr im Detail statt in den großen Visionen“ war es laut Stahmann. Und „wir Grünen neigen dazu, alles auf einen großen Haufen zu schmeißen und alles gleich wichtig zu finden“, sagt Bürgermeisterin Karoline Linnert.

Der Haufen hatte in diesem Fall rund 50 Seiten mehr als eine normale Ausgabe von Jean-Jacques Rousseaus „Contrat Social“ und erzählte die barocke Geschichte von einer Lage, die zwar „auf den ersten Blick gut“ sei, doch sei dies alles eitel Schein, überall herrsche nur Ungerechtigkeit. Und die Erlösung aus dem Jammertal sollte über ein Kreuz bei den Grünen in „ein besseres Morgen“ führen, oder, so christologisch klingt das da wirklich, zu einer „Welt der Gerechtigkeit“.

Ach, Gerechtigkeit: 234-mal taucht der Wortstamm „gerecht“ im Wahlprogramm auf, und oft genug in exquisiten Komposita wie verteilungsgerecht, globalgerecht, altersgerecht oder zentralgerecht. Es ist ein wenig wie bei den arktischen Völkern mit ihren vielen Namen für unterschiedliche Erscheinungsformen von Schnee, bloß wird denen keiner die Expertise absprechen. „Unsere Stammwähler sagten uns oft, sie hätten die Grünen nicht wiedererkannt im Wahlkampf“, berichtet Müller von ihren Erfahrungen. Und in den Stammwählergebieten sind die Verluste am höchsten gewesen. Ungerecht.

Schwarz-Grün wird in Bremen kein Thema sein: Aus seiner Sicht sei „die einzige geradlinige Konsequenz aus dem Wahlergebnis, im Bundestag in die Opposition zu gehen“, sagt Güldner. Auch Müller sieht das so. Und Linnert reagiert fast schon dünnhäutig auf die aus ihrer Sicht „rein taktisch“ motivierte Forderung, mehr in die Mitte zu rücken: „Das Gegenteil ist doch richtig“, sagt sie. „Wir müssen auch die Mitte so umwerben, dass sie zu uns kommt.“ Für eine Partei sind solche Treffen wichtig. Es wäre auch falsch, sie als Nabelschau zu verunglimpfen. Sie können Probleme lösen, wenn auch deren Zusammenhänge ganz andere sind als diejenigen, die laut Tagesordnung gerade an der Reihe wären: Es wird ein Stimmungsbild geben, ein wenig Bedauern über die Personalien im Bund, und einiges an Unmut über den landespolitischen Sparkurs, aber keinen Grundsatzstreit. Man wird die Haltung am Ende bekräftigt haben und mehr zusammengerückt sein. Und für Bremen ändert sich nichts.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.