Saddam Husseins Erbe: Geteiltes Falludscha

Die Sunniten im Irak fühlen sich von der schiitisch dominierten Regierung drangsaliert. „Sie behandeln uns wie Terroristen“, sagt einer von ihnen.

Freitags demonstrieren in Falludscha Zehntausende gegen die Regierung in Bagdad. Bild: reuters

FALLUDSCHA taz | Fast täglich fährt Abu Seif die rund sechzig Kilometer zwischen Bagdad und Falludscha. Wenn er Glück hat, dauert die Fahrt eine Stunde, wenn er Pech hat, ist er einen halben Tag unterwegs. Ein halbes Dutzend Checkpoints säumt die kurze Strecke.

„Sie behandeln uns wie Terroristen“, sagt Abu Seif. Sie, das sind die schiitische Regierung in Bagdad und die schiitischen Soldaten an den Checkpoints, die mit Fahnen von Imam Ali und Imam Hussein häufig ihren Glauben demonstrieren. Für Sunniten wie Abu Seif ist das eine Demütigung im Viertelstundentakt.

Dass an fast jedem Checkpoint auch noch ein großes Bild von Ministerpräsident Nuri al-Maliki mit der Aufschrift „Oberkommandierender des Irak“ hängt, empfindet der Mittfünfziger mit den grauen Stoppelhaaren als zusätzliche Provokation. Mit dem Griff in die Mottenkiste des gestürzten Despoten Saddam Hussein demonstriert der Schiit al-Maliki den Sunniten seine Macht und bestärkt damit ihr Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.

Als die Amerikaner vor knapp zehn Jahren die Schreckensherrschaft Saddams beendeten, stiegen die lange unterdrückten Schiiten auf und die Sunniten ab. Die Beteiligung sunnitischer Parteien an der Regierung ist aus Sicht vieler Sunniten nur ein Feigenblatt, und während Schiiten, die im Verdacht von Verbrechen an Sunniten stehen, bisher straffrei ausgingen, füllen Tausende von angeblichen sunnitischen Terroristen die Gefängnisse.

„Das Volk will den Sturz des Regimes“

Die Sunniten wollen das nicht länger hinnehmen. Seit Wochen demonstrieren Zehntausende landauf, landab gegen die Regierung. „Würde“, „Revolution“ und „Freiheit“ steht auf Transparenten, die sie an Zelten, Brücken und Straßen aufhängen.

„Das Volk will den Sturz des Regimes“, hallt es bei den Freitagsdemonstrationen vom nordirakischen Mossul über Kirkuk, Tikrit, Samarra und Falludscha bis ins westirakische Ramadi. Der Irak scheint vom Wind der arabischen Revolutionen erfasst. „Al-Maliki ist ein Diktator“, sagt Abu Seif. „Er muss gehen.“

Auslöser für die Proteste waren die Verhaftung von Leibwächtern des Finanzministers Rafi al-Issawi, einem Sunniten, im Dezember und Berichte über Misshandlungen und Vergewaltigungen von inhaftierten Frauen. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Längst geht es jedoch um mehr als die Freilassung von Gefangenen und größere Gerechtigkeit bei der Vergabe von Staatsposten. Die Proteste richten sich inzwischen gegen alle Missstände im heutigen Irak: Menschenrechtsverletzungen, Korruption, die Arroganz der politischen Klasse, das eklatante Missverhältnis zwischen Ölreichtum und armseligen öffentlichen Dienstleistungen. Das alles brennt auch vielen Schiiten unter den Nägeln, insofern könnten die Proteste den Anstoß für grundlegende Reformen geben.

Die Sunniten haben in den letzten Jahren schon mehrfach rebelliert, und jedes Mal standen Falludscha und die umliegende Provinz Anbar an vorderster Front – zuerst gegen die Amerikaner und dann gegen die Extremisten der al-Qaida im Irak, als deren Fanatismus zusehends auch für die Sunniten bedrohlich wurde. Nun könnten Falludscha und Anbar erneut zum Symbol für einen Wendepunkt in der Nach-Saddam-Ära werden.

Al-Qaida-Highway

Wären da nicht die Checkpoints und der Fluss, Falludscha wäre heute eine dieser trostlosen irakischen Provinzstädte in einer nicht weniger trostlosen Landschaft. Der Euphrat sorgt für sattgrüne Felder, auf denen Getreide und Gemüse gedeihen, und bringt so Farbe in die staubige graugelbe Ebene.

Auf einer Werbetafel kündigt die Regierung den Bau eines Staudamms an, der den Bauern ihre Zukunft sichern soll. Es ist eines der typischen vollmundigen Versprechen, auf deren Erfüllung die Iraker seit Jahren warten.

An der zweispurigen Hauptstraße, die mancher nur Al-Qaida-Highway nennt, stehen immer noch halb verfallene Kriegsruinen mit eingestürzten Dächern und von Granaten und Kugeln durchsiebten Wänden. Sprengschutzwände und Stacheldraht umzäunen die öffentlichen Gebäude.

Doch nicht alles ist so trostlos. Manche Neubauvillen erstrahlen knallbunt in Blau-, Orange- und Gelbtönen, und Geschäftsleute haben ihre Läden teils mit neuen Fassaden verkleidet.

Bei Hadschi Hussein bekommt man wie früher wieder den besten Kebab, die gegrillten Lammfleischspieße, für die Falludscha im ganzen Land berühmt ist. Zur Mittagszeit herrscht Hochbetrieb, vom einfachen Taxifahrer bis zum einflussreichen Scheich, der mit dem dicken Geländewagen vorfährt, kommt jeder zu Hadschi Hussein. Hinter uns sitzen zwei Paare, die Frauen haben ihr Gesicht mit dem Nikab, dem Gesichtsschleier, verhüllt.

„Stadt der hundert Moscheen“

Die „Stadt der hundert Moscheen“ nennt der Volksmund Falludscha. Sie war schon immer konservativ. Rechtsstreitigkeiten handelt man hier lieber zwischen den Stämmen als vor Gericht aus. Und so sind es die Stammesscheichs und die Geistlichen, die auch in der Politik den Ton angeben – Männer wie Scheich Eifan Sadun Eifan Issawi.

Obwohl erst Ende dreißig, kann Issawi bereits auf eine eindrückliche politische Karriere blicken. Vom Provinzratsvertreter hat er den Einzug ins irakische Parlament geschafft, das ihn zum Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses wählte.

Den Aufstieg verdankt er seinem Kampf gegen al-Qaida, gegen die er sich als erster Scheich von Falludscha stellte. Das hat ihm einflussreiche Freunde beschert, wie die imposante Bildergalerie in seinem großen Empfangsraum zeigt: der Scheich an der Seite von George W. Bush, Barack Obama oder namhaften US-Kommandanten, der Scheich im Kreis von Notabeln, an der Seite von Vizepräsident Tarik al-Haschemi und Regierungschef Nuri al-Maliki. „Maliki ist mein Freund“, sagt Issawi. Maliki, der mit umstrittenen Terrorvorwürfen den Sunniten al-Haschemi aus dem Amt drängte?

Der gejagte Vermittler

Für al-Haschemi, der ins Ausland floh und in fragwürdigen Prozessen mittlerweile mehrfach zum Tode verurteilt wurde, hat Issawi kaum noch gute Worte. Böse Zungen nennen ihn einen Opportunisten, andere loben ihn dagegen als Pragmatiker, der sich um einen Ausweg aus der schiitisch-sunnitischen Dauerkrise bemüht.

Auf jeden Fall ist die Freundschaft mit al-Maliki eine Art Lebensversicherung. Denn Issawi ist ein Gejagter. Seit Jahren ist al-Qaida hinter ihm her. Ein Scharfschütze überwacht die Zufahrt, Leibwachen kontrollieren penibel jeden Besucher, auf die Straße traut er sich nur im gepanzerten Geländewagen.

Seit dem Abzug der US-Soldaten aus dem Irak sei al-Qaida wieder erstarkt, sagt Issawi. Von einem massenhaften Abzug der Extremisten nach Syrien, wie es in Washington heißt, könne keine Rede sein. Westliche Diplomaten teilen diese Einschätzung.

Umso mehr ist Issawi auf die Hilfe der schiitisch dominierten Sicherheitskräfte angewiesen. Wie al-Maliki fürchtet auch er, dass al-Qaida von einem Umsturz im Nachbarland Syrien profitieren könnte. Doch hier enden die Gemeinsamkeiten, politisch verbindet den stolzen sunnitischen Scheich und den konservativen religiösen Schiiten so gut wie nichts.

Die dritte Rebellion

Eine Schande sei es, sagt Issawi, dass al-Maliki syrische Flüchtlinge abweise, eine Schande, dass er dem syrischen Despoten Baschar al-Assad die Stange halte. Der Irak befinde sich heute unter der Fuchtel des Iran, auch deshalb dürfe al-Maliki nicht noch einmal Regierungschef werden.

Dabei klingt der Scheich mit dem freundlichen Pausbackengesicht fast wie die zornigen Demonstranten. Ob die dritte Rebellion der Sunniten die Regierung zu Reformen bewegt, wie er es wünscht, oder zu neuem Blutvergießen führt, wird Issawi nicht mehr erfahren. Kurz nach unserer Begegnung wird er Opfer eines Selbstmordanschlags.

Al-Maliki hat auf die Proteste bisher so reagiert wie immer, wenn er unter Druck geriet: mit einer Mischung aus Zugeständnissen und Einschüchterungen. Nach eigenen Angaben hat die Regierung seit Dezember 2.485 Gefangene entlassen, zudem sollen einige zehntausend ehemalige Staatsbedienstete Pensionen und mehrere hundert ihren konfiszierten Besitz zurückerhalten.

Gleichzeitig dauern die Razzien in den sunnitischen Regionen an. In Bagdad verhindern Sicherheitskräfte, dass die Sunniten an Freitagen ihre Proteste aus den Moscheen auf die Straße tragen. Zugleich ist der Handlungsspielraum von al-Maliki gering. Iran mache Druck, sagt ein hochrangiger schiitischer Politiker, der anonym bleiben möchte. Das iranische Regime wolle die Sunniten um jeden Preis von der Macht fernhalten.

Weiterhin nehmen an den Freitagsdemonstrationen in Anbar regelmäßig Zehntausende Menschen teil. Ihren Unmut bekommen sogar sunnitische Politiker zu spüren, die aus Sicht der Protestbewegung nichts erreicht haben und als korrupt und unfähig gelten.

Als der stellvertretende Ministerpräsident Salih al-Mutlak vor einigen Wochen bei einer Kundgebung reden wollte, bewarfen ihn Demonstranten mit Plastikflaschen und Steinen. Nur mit Mühe konnten Stammesscheichs verhindern, dass es nach den tödlichen Schüssen von Soldaten, denen in Falludscha Ende Januar vier Demonstranten zum Opfer fielen, Hitzköpfe zu den Waffen griffen.

Al-Qaida schürt Hass

Allen voran die Brandstifter von al-Qaida versuchen, die Rebellion auf ihre Mühlen zu lenken und mit Anschlägen auf Schiiten den religiösen Hass erneut anzufachen. Seit Jahresbeginn haben die Extremisten schon mindestens zehn Anschläge verübt, die jeweils mehr als zwanzig Tote forderten. Damit schüren sie aufseiten der Schiiten den Verdacht, den Sunniten ginge es gar nicht um eine gerechtere Nachkriegsordnung, sondern nur um die Macht.

Unter den Sunniten kursieren Gerüchte, al-Maliki plane einen Großangriff auf die Protestbewegung. Aus Furcht vor gewaltsamen Zusammenstößen haben die Scheichs einen geplanten Marsch nach Bagdad vorläufig abgeblasen.

Doch aufgegeben haben sie den Plan noch nicht. Kurz vor dem zehnten Jahrestag von Saddams Sturz steht al-Maliki vor seiner wohl größten Bewährungsprobe. Bisher hat er sämtliche Regierungskrisen stoisch ausgesessen.

Das wird diesmal nicht reichen. In Ramadi, der Hauptstadt von Anbar, hat die Protestbewegung eine feste Zeltstadt eingerichtet. „Wir werden nicht weichen“, sagte Scheich Ali Hatem Suleiman kürzlich. Der Prinz vom mächtigen Stamm der Duleim war bis vor Kurzem ebenfalls ein Freund al-Malikis. „Wir werden bleiben, bis wir unsere legitimen Rechte bekommen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.