Erinnerungen an Helmut Kohl: Die Liebe in Zeiten der Kohl-Ära

Vier tazler wagen einen Blick zurück: Vor 30 Jahren versprach Kohl die „geistig-moralische“ Wende. Am Gefühlsleben der Deutschen ging das nicht spurlos vorbei.

Kohl mit einem Glas Äppelwoi: Sein Schatten schwebte fast zwei Jahrzehnte über allem. Bild: reuters

Schwarz steht mir gut Am 19. März 1990 kaufte ich mir ein schwarzes Hemd aus Seide. Ich kaufte es mir wegen Helmut Kohl. Und das kam so.

Tags zuvor hatten die DDR-Bürger die Abgeordneten der Volkskammer gewählt. Es war ihre erste und letzte demokratische Wahl. Niederschmetterndes Ergebnis war, dass die Ostler von der CDU regiert werden wollten. 40,8 Prozent für die Partei jenes Mannes, den ich nur spöttisch belächelt hatte. Ich meine, wir hatten ja gerade das Politbüro überstanden – warum sollten wir uns so was wie Uncooles wie Helmut Kohl herbeiwählen?

An diesem Tag musste ich kapieren, dass ich mich getäuscht hatte in meinen Landsleuten. Und so tat ich etwas, was mir bis heute dunkle Stunden versüßt: Ich kaufte mir was zum Anziehen. Im Exquisit in der Leipziger Straße, quasi im Schatten des Springer-Hochhauses, erwarb ich dieses schwarze Hemd.

Wahl: Helmut Kohl wurde heute vor 30 Jahren am 1. Oktober 1982 zum Bundeskanzler gewählt. Er stürzte seinen Vorgänger Helmut Schmidt (SPD) per Misstrauensvotum. Die FDP verließ die sozialliberale Koalition und regierte fortan mit der CDU.

Moralische Wende: Eine "geistig-moralische Erneuerung" hatte Kohl vor seiner Wahl 1982 gefordert, seine Zeit verbinden heute jedoch vielen vor allem mit gesellschaftlichem Stillstand.

taz und Kohl: Die taz hatte ein spezielles Verhältnis zu Kohl. Am Tag nach seiner Wahl brachte sie eine 24-seitige Sonderausgabe heraus - zur Frankfurter Buchmesse. Über den Regierungswechsel stand darin kein einziges Wort.

Ich wollte Trauer tragen. Trauer um diese ganzen Quatsch – Ideen von einem dritten Weg, einer sich selbst erneuernden DDR. Trauer um das, offenbar nur herbeihalluzinierte, innere Einverständnis mit meinen Mitbürgern. Ich hatte ihren Wunsch nach Teilhabe am fetten Leben dramatisch unterschätzt.

Ich trug mein schwarzes Hemd. Es stand mir wirklich gut. Ich trug es auch, als ich wenig später einen Westmann kennenlernte. Er fand auch, dass mir Schwarz steht. Er sagt das hin und wieder noch heute. In dieser Frage sind wir uns also einig. Worüber wir uns nie einigen konnten, ist die Frage über die Liebe zu einem Land. Über den Wunsch nach Zugehörigkeit.

Der Westmann war mit Helmut Kohl aufgewachsen, er kannte nichts anderes. Und er hasste es. Ich war mit der Idee aufgewachsen, dass es gut für den Gefühlshaushalt ist, irgendwo dazuzugehören. Aber zu Kohls Land? Das ging gar nicht. Wir stritten über Prägung und Fügung, über erlernte und erfühlte Liebe. Und seltsamerweise spielte dieser dicke Kohl immer wieder eine wichtige Rolle in diesen Streits. Acht Jahre später wurde Kohl abgewählt. Zuerst hoffte ich. Aber bald resignierte ich endgültig, was die Liebe zu einem Land angeht. Diese Ernüchterung und eine dezente Freude an schwarzer Kleidung verdanke ich: Helmut Kohl.

ANJA MAIER

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Die Peinlichkeit der späten Geburt Wer in den 80ern jung war, hatte ein Problem mit Deutschland. Ich jedenfalls kannte keine Menschen, die das nicht hatten. Mein Problem jedoch war noch größer, als einfach zu denken, dies sei ein Kack-Staat. Ich schämte mich seiner.

Die Vorstellung, dass Menschen in anderen Ländern die „Schwarzwaldklinik“ sahen und darüber den modrigen Gestank der Heimatduselei und anachronistischer Rollenbilder wahrnahmen, ließ mich den Kopf einziehen. Ich, die ich im Ausland als modern wahrgenommen werden wollte, schleppte dieses ultrapeinliche Deutschlandbild im Rücken mit mir mit.

War ich in Schweden als 15- Jährige für die Nazi-Gräuel verantwortlich gemacht worden, kam ich nun aus einem Land, das durch Leistung Aufmerksamkeit erhielt, dessen Leistungsträger jedoch wie aus einer Blödelshow wirkten.

An der Macht war einer, der in einem hinterwäldlerischen Dialekt nuschelte und den Eindruck machte, schon als junger Mensch alt gewesen zu sein. Ein Briefmarkensammler, ein Vogelkundler. Mit Boris Becker hatte ein rosafarbener Teigling Wimbledon gewonnen, mit Steffi Graf eine vom Ehrgeiz Zerfressene, deren Einsatz bei „Wetten dass ..?“ war, ihrer Gegnerin, sollte sie unterliegen, einen Blumenstrauß zu überreichen. Obendrein war das, was die Neue Deutsche Welle bis nach London bekannt gemacht hatte – dass sie wild, avantgardistisch, Kunst war –, zersetzt worden von Schlagerfuzzis, die es lustig fanden, einen Knutschfleck zu besingen. Und die Leute – ihnen gefiel es. So wie alles, das nicht wehtat.

Deutschland war in diesen Jahren ein Schrebergarten und es wurde mit jedem Jahr Kohl bräsiger. Es war eine Stätte des Kleingeistes und des Kleinbürgers. Als dann das andere Deutschland übernommen wurde, lebte die Scham neu auf. Diese Gier, diese Berechnung, diese Tücke. Eigentlich lebt diese Scham noch heute. Wenn mir Menschen aus der DDR begegnen, deren Landschaft immer noch nicht blüht, möchte ich sagen: Mir ist das wirklich unangenehm. Es tut mir aufrichtig leid. Aber ehrlich gesagt: Ich kann nichts dafür.

SILKE BURMESTER

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Kein Kuss für den Rebellen Helmut Kohl war daran schuld. Daran, dass die 90er Jahre eine Zumutung waren. Helmut Kohl, das war personifizierte Alternativlosigkeit, Ursache eines kolossalen Desinteresses am Weltgeschehen. Vielleicht war er auch nur Symptom oder eine Metapher dessen, was man Politikverdrossenheit nannte.

Ich bin zu allem Überfluss in diesem Jahrzehnt geschlechtsreif geworden. Landschwabe, Interesse an Politik. Politik war langweilig, öde, doof, die Sache von grauen Männern in dunklen Anzügen, das war Tagessschau- taaa-ta-ta-taaa. Wer ein Mädchen wollte, der durfte sich nicht für solchen Kram interessieren.

Wenn uns graubärtige 68er Lehrer auf Klassenfahrt als späte Rache am Establishment Kippen drehen beibrachten, dann erzählten sie nebenher von Dutschke, RAF und dass Sex irgendwie was mit krassen Demos und mit USA und Vietnam und Imperialismus-scheiße-Finden zu tun hatte. In den 90ern erzählten wir Witze über Saumagen und Trabbis. Wer ein Mädchen wollte, der musste kicken, Gitarre spielen oder eine veritable Bravo-Hits-Sammlung vorweisen und vor allem nie, nie über Politik reden.

Kohl war seit Anbeginn meines Denkens an der Macht und bedeckte meine Welt wie grauer, ungesalzener Haferschleim. Als ich 1993 zum ersten Mal mit einem Mädchen allein im Kino war, Harrison Ford in „Auf der Flucht“, zeigten sie im Werbeblock diese Anti-Ozonloch-Werbung von Greenpeace. Sie spielte ungefähr im Jahr 2012: Die Welt ist total verbrannt, ein paar Kinder spielen in Schutzanzügen unter gleißender Sonne Fußball. Zum Schluss eine donnergrollende Warnung: „FCKW hat einen Namen: Dupont“. „So weit wird es kommen, wenn wir Kohl nicht abwählen“, erläuterte ich meiner Verabredung. Sie schnippste Popcorn auf Erwachsene, Harrison Ford stürzte einen Wasserfall hinab, Film aus. Die Lichter gingen an, wir hatten nicht geknutscht. Sie meldete sich nie wieder. Politik war einfach out.

1998 war jedenfalls das erste Mal, dass ein Mädchen nicht entsetzt aus meinem Zimmer rannte, als sie mein Lieblingsposter sah. Es zeigte Kohl im Schneidersitz und darunter stand: „Buddhismus bizarr: Kohl droht mit Wiedergeburt“. Das Mädchen war wundervoll, sie kiffte, nahm gelegentlich LSD und erkannte, wie furchtbar dieser Gedanke war.

INGO ARZT

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Zum Sendeschluss das Deutschlandlied

Sage niemand, der Mann hätte keinen Sinn für Ironie: Da hatte Helmut Kohl zum Amtsantritt die geistig-moralische Wende in (West-)Deutschland versprochen. Und stattdes- sen nur zwei Jahre später das Privatfernsehen geliefert.

Irgendwie hatten die Öffentlich-Rechtlichen zumindest etwas geahnt: Latent unter Links-Verdacht stehende Kinderserien wie „Krempoli“ oder das „Feuerrote Spielmobil“ liefen aus. Dafür bekamen Erwachsene jetzt ihr Fett in Serie weg: Den Ölkrisen-Szenarien der 1970er folgte ab 1981 in der ARD „Dallas“ und lieferte das erste Mal nur mäßig durch die familiären Irrungen der Ewings überdeckten Neoliberalismus ins Wohnzimmer.

Anfang der 80er war das westdeutsche Fernsehen dabei immerhin noch ziemlich breit aufgestellt: Es gab intellektuellen Talk mit einem umgeschulten WDR-Juristen namens Alfred Biolek, doch die Rückmeldungen, die die ARD auf Rainer Werner Fassbinders 13-Teiler „Berlin Alexanderplatz“ bekam – „zu dunkel!“ – zeugte schon von kommender Schlichtheit.

Und dann ging es Schlag auf Schlag: Das „Traumschiff“ stach 1981 in See, 1985 kam Professor Brinkmann mit seiner „Schwarzwaldklinik“ hinzu und zeigte, dass auch die heile Welt der Reichen und Schönen ihre Tücken hat. Worauf sich der Fernsehbürger wohlig in seinem Sessel zusammenrollte, froh war, dass er solche Probleme nicht hatte – und allem Fortschrittlichen eine Absage erteilte.

Edgar Reitz konnte zwar noch „Heimat“ drehen, doch insgesamt war das TV-Angebot einSpiegel des Systems: blass, kalt, einfallslos kam es daher. „Wetten dass ..?“ und die „Lindenstraße“ sollten auf lange Sicht die letzte große Innovation im deutschen Fernsehen bleiben. Und ARD wie ZDF spielten plötzlich zum Sendeschluss das Deutschlandlied.

Ab 1984 waren sie plötzlich da, die Privaten. Bei RTL wackelten zwar noch die Kulissen, aber auch die Brüste in „Tutti Frutti“. Fernsehen war jetzt garantiert kein aufklärerisches Medium mehr, sondern gab sich auf seltsam biedere Art „verrucht“, und der verklemmte Kulturpessimismus diskutierte über Hugo Egon Balders Zoten, während bei Sat.1 unterm Dirndl gejodelt wurde. Derlei Resteverwertung aus den Programmspeichern von Kirch & Co. hätte auch den Ewings imponiert.

STEFFEN GRIMBERG

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