20 Jahre Pogrom in Rostock: Anschläge und Kampagnen

Nicht erst seit der Wiedervereinigung kam die Rede oft aufs „volle Boot“. Einer unvollständige Chronik zeigt das Wechselpiel zwischen Medien, Politik und Gewalt auf.

„Das Boot ist voll“? Der Mob kümmert sich drum – Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Bild: dapd

BERLIN taz | Mitte der 1980er Jahre starten die Unionsparteien eine Kampagne gegen „Asylmissbrauch“. Rechtsradikale Parteien wie die Republikaner und die DVU verzeichnen zwischen 1989 und 1992 Wahlerfolge mit Parolen wie „Das Boot ist voll“.

Nach der Wiedervereinigung steigt die Zahl der Asylsuchenden stark an. Im Dezember 1990 eröffnet in Rostock-Lichtenhagen im Sonnenblumenhaus die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) Mecklenburg-Vorpommerns. Sie ist bald chronisch überfüllt.

Viele Medien greifen das Bild vom „vollen Boot“ auf: Am 9. September 1991 titelt der Spiegel: „Ansturm der Armen“, und zeigt eine schwarz-rot-goldene, von Menschenmassen überschwemmte Arche. Am 26. September 1991 titelte die Bild-Zeitung: „Asyl: Bonn, tu was“.

In der Stadt Hoyerswerda attackieren Neonazis und Anwohner erst vietnamesische Straßenhändler, dann vom 17. bis 22. September eine Unterkunft von Vertragsarbeitern aus Mosambik und ein Asylbewerberheim. Die Bild-Zeitung titelt am 2. April 1992: „Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“. Der Spiegel illustriert am 6. April 1992 die Schlagzeile „Asyl. Die Politiker versagen“ mit einem Foto, das eine bedrohlich lange Warteschlange von Ayslbewerbern zeigt.

Im August 1992 ist das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen komplett überfüllt. Etwa 400 Asylbewerber campieren in der Umgebung. Die Stadt Rostock stellt keine mobilen Toiletten auf und ignoriert Beschwerden der Anwohner.

Bei lokalen Medien mehren sich teils anonyme Drohungen, die Krawalle ankündigen, sollte das Haus nicht bis zum 22. August geräumt sein. Polizei und Innenministerium stellen sich taub. Am Samstag, den 22. August 1992, versammeln sich abends rund 200 Naziskins und 1.000 Anwohner vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Steine und Molotowcocktails fliegen. Ihnen stehen zunächst nur 35 Polizisten gegenüber.

Am Sonntag, den 23. August 1992, wiederholen sich die Szenen. Aus dem ganzen Land reisen prominente Rechtsextreme an. Am Montag, 24. August 1992, werden die Asylsuchenden aus dem Haus evakuiert. Übrig bleiben knapp 120 Vietnamesen. Abends versammeln sich 800 militante Rechte und 3.000 Schaulustige. Zwei aus Hamburg angereiste Polizeihundertschaften werden überraschend abgezogen, Rechtsextreme setzen das Haus gegen 21.30 Uhr in Brand. Erst zwei Stunden später kann die Feuerwehr, der es an Polizeischutz fehlt, löschen.

Am 25. August 1992 liefern sich über 1.000 Naziskins Straßenschlachten mit Polizisten. CDU-Politiker geben Rechtsextremen und Linken gleichermaßen die Schuld an der Eskalation. Am 27. August beteiligen sich 3.000 Menschen in Rostock an einem Schweigemarsch. Am 29. August 1992 demonstrieren 15.000 Menschen in Rostock friedlich gegen Rassismus. 3.000 Beamte halten Tausende linke Demonstranten vor der Stadt fest.

Im Oktober 1992 spricht Helmut Kohl von einem „Staatsnotstand“ – meint damit aber nicht die rassistischen Übergriffe auf Asylbewerber und Migranten, sondern das geltende Asylrecht. Am 23. November 1992 sterben nach einem Brandanschlag Rechtsradikaler in Mölln auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser drei Menschen. Im selben Monat demonstrieren in mehreren Städten mehrere Hunderttausend Menschen mit Lichterketten gegen den rechten Terror.

Am 6. Dezember 1992 einigen sich CDU/CSU, SPD und FDP auf den sogenannten Asylkompromiss, der am 26. Mai 1993 im Bundestag beschlossen wird und am 1. Juli in Kraft tritt. Im April 1993 werden drei Schweriner Naziskins wegen ihrer Beteiligung an den Angriffen zu Bewährungs- und Freiheitsstrafen zwischen zwei und drei Jahren verurteilt. Insgesamt werden 44 Angeklagte in 36 Prozessen verurteilt.

Am 23. Mai 1993 sterben in Solingen fünf Menschen bei einem Brandanschlag auf ein von einer türkischen Familie bewohntes Haus. Im Juni 2002 endet der letzte Prozess gegen drei Angreifer von Lichtenhagen mit Bewährungsstrafen.

Im Juli 2002 werden wieder Brandsätze auf das Sonnenblumenhaus, auf ein Büro der Arbeiterwohlfahrt und einen nahe gelegenen Asia-Imbiss geworfen.

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