Zehn Jahre Nachhaltigkeitsstragie: Wieder mal Regen

Deutschland, Wirtschaftswunderland. Die ökonomische Leistung stimmt. Deutschland, Umweltsünderland. Die ökologische Leistung stimmt noch lange nicht.

Deutschland eine coole Sau? Eher eine Umweltsau. Bild: Atreyu1980 / photocase.com

BERLIN taz | Deutschland ist ein Vorzeigeland: klimafreundlich, Atomausstieg, Wirtschaftsmotor Europas. Insgesamt hat das Land im Bereich Nachhaltigkeit – also ressourcenschonende Entwicklung – einen Ruf zu verteidigen. Der aktuelle „Fortschrittsbericht 2012“ zeigt allerdings ein differenziertes Bild.

In den letzten 20 Jahren ist die deutsche Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) pro Kopf um fast ein Viertel gestiegen. Auch nach der Krise sind das im Schnitt 29.000 Euro pro Einwohner im Jahr. Der Ausbau der erneuerbaren Energien liegt mit 20 Prozent der Stromversorgung weit über dem Trend. Und die Zahl der angezeigten Straftaten ist um 13 Prozent gesunken. So weit das Positive.

Die Deutschen haben eine längere Lebenserwartung (77 Jahre für Männer, 82 für Frauen), die Fälle von „vorzeitiger Sterblichkeit“ sind seltener geworden. Immer mehr ältere Menschen gehen einer bezahlten Arbeit nach. Inzwischen machen 86 Prozent der Schüler ausländischer Herkunft einen Schulabschluss, 1996 waren es noch 80 Prozent. Diese Trends können sich noch fortsetzen.

Allerdings verschwinden in Deutschland nach wie vor Pflanzen- und Tierarten viel schneller als erhofft, die Artenvielfalt beträgt nur zwei Drittel des gewünschten Niveaus; für neue Häuser und Straßen wird jeden Tag Natur mit einer Fläche von 150 Fußballfeldern zubetoniert. Der Anteil der Fettleibigen an der Bevölkerung ist im letzten Jahrzehnt von 11 auf 15 Prozent gestiegen. Frauen verdienen im Schnitt 23 Prozent weniger als Männer. Hier werden die guten Absichten weit verfehlt.

Das ist die gemischte Bilanz nach zehn Jahren „Nachhaltigkeitsstrategie“ in Deutschland. Sie steht so in der Datenflut, die die Bundesregierung mit dem „Fortschrittsbericht 2012“ Ende Februar weitgehend unbemerkt der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Alle vier Jahre zieht die Regierung mithilfe des Statistischen Bundesamts Bilanz, wie weit das Land auf Kurs zu einer zukunftsfähigen Entwicklung ist.

Fazit der Regierung: Es gibt Licht und Schatten, Fortschritte, Stillstand und Fehlschläge auf allen Feldern. Die Daten selbst jedoch erzählen noch eine andere Geschichte: Denn Deutschland erreicht praktisch alle seine Ziele auf wirtschaftlichem Gebiet, bietet beim Sozialen ein gemischtes Bild – und verfehlt bis auf wenige Ausnahmen seine Umweltziele.

UMWELT

+ Um die Artenvielfalt und Landschaftsqualität ist es in Deutschland schlecht bestellt. Bis zum Jahr 2015 soll der Indexwert 100 erreicht werden. Danach sieht es derzeit nicht aus.

+ Immerhin konnten die Treibhausgasemissionen reduziert werden. Bis 2012 sollen 21 Prozent, bis 2050 sogar bis zu 95 Prozent gegenüber 1990 eingespart werden.

+ Nur mittelgut entwickelt sich hingegen die Flächennutzung: Das Ziel, bis 2020 jährlich unter 30 Hektar Siedlungs- und Verkehrsfläche zu bleiben, ist noch weit entfernt.

+ Auch die Landwirtschaft bleibt eine Baustelle. In den nächsten Jahren sollen 20 Prozent der so genutzten Fläche ökologischer Landbau sein. Bislang sieht es nicht so aus.

WIRTSCHAFT

+ Nie waren die Deutschen so leistungsfähig. Und das trotz Wirtschaftskrise. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg in 20 Jahren um 25 Prozent. Auf 29.000 Euro pro Kopf.

+ Im Bereich Innovation befindet sich Deutschland auf gutem Weg. Das Ziel, 3 Prozent des BIP bis 2020 in Forschung und Entwicklung zu investieren, wird erreicht.

+ In Sachen Generationengerechtigkeit gibt es bei der Staatsverschuldung viel zu meckern: Ein Haushalt mit Schuldenanteil unter 3 Prozent des BIP ist derzeit völlig unrealistisch.

„Grünes Kabinett"

„Jede Generation muss ihre Aufgaben lösen und darf sie nicht kommenden Generationen aufbürden“, schreibt die Regierung zum Fortschrittsbericht 2012. Vor zehn Jahren, rechtzeitig vor dem UN-Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg 2002, stampfte die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder eine „Nachhaltigkeitsstrategie“ aus dem Boden. Seitdem ist das Thema mit dem schwammigen Titel fest in der Regierungsbürokratie verankert: Im „Rat für Nachhaltigkeit“ erarbeiten 15 ExpertInnen aus Industrie, Politik und Gesellschaft Konzepte.

Einmal im Monat treffen sich im Kanzleramt die Staatssekretäre zum „grünen Kabinett“, um Themen mit Bezug zur Nachhaltigkeit zu planen. Und ein eigener „parlamentarischer Beirat“ mit 22 Abgeordneten des Bundestags prüft seit 2009 alle Gesetze auf Nachhaltigkeit – allerdings nur formal, nicht inhaltlich. Alle diese Erfolge wird Deutschland im Juni auf dem nächsten UN-Nachhaltigkeitsgipfel in Rio de Janeiro präsentieren.

Die verwaltungstechnischen Fortschritte sind groß. Die Enttäuschung ist es auch, weil greifbare Ziele im echten Leben nicht erreicht wurden. Eine genauer Blick auf die Daten von Bundesregierung und Statistischen Bundesamts zeigt: Bei 38 Indikatoren für Nachhaltigkeit sind 13 Resultate mit einer strahlenden Sonne versehen: Symbol für „Ziel erreicht“ oder kurz davor. Bei fünf Indikatoren fehlen noch 20 Prozent zur Planerfüllung, bei elf Indikatoren ist kaum Fortschritt zu sehen und bei den letzten acht Bereichen gehen die Entwicklungen in die völlig falsche Richtung. Symbol: eine Gewitterwolke.

Es blitzt und donnert bei den Umweltzielen

Doch es regnet nicht auf alle gleich. Mit Ausnahme der Ziele, die solide Staatsfinanzen betreffen und durch die Eurokrise gefährdet sind, scheint in der Wirtschaft durchweg die Sonne. Und mit Ausnahme der erneuerbaren Energien und des Klimaschutzes blitzt und donnert es bei den meisten Umweltzielen. Insgesamt ist man bei 6 von 16 sozialen Indikatoren weit davon entfernt, das Ziel zu erreichen. Und auf dem Gebiet der Umwelt sind es sogar 10 von 15 angepeilte Ziele, die kaum erreichbar sind.

Die Fort- und Rückschritte bei den Indikatoren seien „ein getreuliches Abbild der Gesellschaft“, sagt Günther Bachmann, Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrats. „Alles, was nicht auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist, hat es schwer.“ Schwierig seien Fortschritte vor allem bei Indikatoren, die sich der direkten politischen Regelung entziehen oder wo – wie beim Flächenverbrauch – die Zuständigkeit nicht bei der Bundesregierung, sondern bei den Kommunen liege.

Der „Fortschrittsbericht 2012“ zeigt deshalb keinen Fortschritt, sondern die Fortsetzung des Trends. Was gut funktioniert, ist das leicht ergrünte „Weiter so!“. Schwierig wird es bei einem Kurswechsel in Lebensstilen oder Wirtschaftsweise. Das zeigte sich schon beim letzten Report von 2008. Seitdem haben sich manche sozialen Indikatoren verbessert, aber die schlechten Noten für die Umweltprobleme sind geblieben.

Darauf hatte schon 2008 das Wuppertal Institut hingewiesen. In einer Neuauflage es umfassenden Gutachtens „Zukunftsfähiges Deutschland“ von 1996 zogen die Wissenschaftler zwölf Jahre später ein „ernüchterndes Fazit: Die Gesamttendenz kann man als Stagnation der Umweltbeanspruchung auf unzuträglich hohem Niveau bezeichnen“.

Im Vergleich mit anderen Ländern vorbildlich

Die Strategie zur Nachhaltigkeit wird allgemein gepriesen: Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) – dessen Ehrenvorsitzende Angelika Zahrnt im Nachhaltigkeitsrat sitzt – lobt die langfristigen Ziele und die absoluten Obergrenzen. Gleichzeitig monieren die Umweltschützer aber, dass „die tatsächliche Politik der Regierung der Strategie in wichtigen Bereichen entgegensteht“.

Und Klaus Jacob, der sich an der Forschungsstelle Umweltpolitik der FU Berlin mit dem Thema beschäftigt, findet die deutsche Strategie, „verglichen mit anderen Ländern, vorbildlich“. Allerdings komme es auch immer auf die Wahl der Faktoren an: „Das Wirtschaftsministerium sucht sich gern Indikatoren, die es gut aussehen lassen. Das Umweltministerium hat einen Hang zum Masochismus, also zur Ehrlichkeit.“

Die alltägliche Politik bleibe aber weitgehend unberührt von den Vorgaben der Nachhaltigkeit. Das lässt sich für Jacob durchaus ändern: Die Nachhaltigkeitsprüfung der Gesetze müsse ernsthafter betrieben werden; auch bestehende Gesetze müssten auf den Prüfstand; und schließlich „müsste es auch durch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht möglich sein, den Verstoß gegen Nachhaltigkeitsziele zu verhindern“.

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