Neue Formen des Wir-Gefühls: Du und ich und alle

Gibt es eine Sehnsucht nach der Rückkehr zu Gemeinschaften? Was ist "wir"? Und was bedeutet eigentlich Gemeinschaft? Philosophen und Kulturwissenschaftler geben Antworten.

Gemeinschaft hat viele Formen – und ebensoviele Definitionen. Bild: photocase/ines89

ESSEN taz | Wer bildet das "Wir" von Gemeinschaften von den WGs bis zu den Netz-Communitys? Unter dem Titel "Communitas, Commune, Communismus" wurde im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen über diese Fragen diskutiert. Einen Anlass für die Tagung bildete die parallel im benachbarten Museum Folkwang gezeigte Ausstellung des niederländischen Video- und Filmkünstlers Aernout Mik ebenfalls unter dem Titel "Communitas". Sabine Marie Schmidt, die Kuratorin der Ausstellung, legte dar, dass Gemeinschaft für Aernout Mik einen ebenso aktuellen wie offenen Begriff mit vielen Bezügen darstellt.

In den Sozialwissenschaften ist der Begriff "Gemeinschaft" oft positiv besetzt. Gleichzeitig gilt er als problematisch, weil viele Gemeinschaften Geborgenheit nur suggerieren - etwa in militärischen Verbänden oder Gefängnissen. Aus dem Dilemma, dass Gemeinschaften nur in der Fantasie der an ihnen Beteiligten existieren, zogen Jean-Luc Nancy und andere Philosophen radikale Konsequenzen, wie die Frankfurter Philosophin Francesca Raimondi ausführte.

Nancy verschlankte "Gemeinschaft" zu einem Begriff jenseits aller konkreten Lebensformen. Er spricht von der "un- oder nicht-darstellbaren Gemeinschaft", weil diese weder in einem soziologischen Begriff aufgeht, noch bestimmte soziale Gruppen umfasst, noch eine Alternative zur Gesellschaft darstellt. Gemeinschaften bilden dennoch einen Schutzwall gegen Nicht-Zugehörige und ein Pflichtverhältnis unter den Zugehörigen.

Göttliche Gemeinschaften

Nach den Ausführungen von Francesca Raimondi ist der Begriff "Gemeinschaft" überhaupt nur mit negativen Bestimmungen, was Gemeinschaft nicht ist, zu fassen: Sie ist maß- und grenzenlos, ohne Anfang und ohne Ende, aber jederzeit und überall ("ubiquitär") präsent. Dank solcher negativer Bestimmungen oder der rein formalen Charakterisierung als "Relationalität" weist dieser Gemeinschaftsbegriff die gleichen Qualitäten auf, wie sie Theologen Gott zuschreiben.

Dieser ist ebenfalls unfassbar, ewig, namen-, grenzen-, anfangs- und endlos, aber allgegenwärtig. Gemeinschaft wäre dann ein Gedankenkonstrukt ohne Repräsentation in der sozialen Realität - ein diffuses "Noch-Nicht" (Raimondi), das einzig darauf hinweist, wie brüchig und problematisch existierende soziale Beziehungen und Verhältnisse geworden sind.

Kommunistische Gesten

In dieser Offenheit und totalen Unbestimmtheit gleicht der Begriff "Gemeinschaft" dem des "Kommunismus", den Frank Ruda mit Berufung auf Alain Badiou und Slavoj Zizek wenigstens als "Geste" zu retten versuchte. Dagegen argumentierte der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik mit Vehemenz und dem Hinweis, dass ein wirklich universalistisches Konzept von Demokratie und Rechtsstaat einer Wiederbelebung des Kommunismus in theoretischer und politischer Hinsicht vorzuziehen sei.

Wolfgang Kraushaar zeigte in seinem konzisen Vortrag, welche Bedeutung der ebenso extensive wie repressive Gemeinschaftsbegriff in der Kommune-Bewegung Ende der 60er Jahre hatte und wie er sich in der nachfolgenden Landkommune- und Alternativbewegung relativierte und politisch rationaler artikulierte. Von der Kinderladen- über die Frauen- und die Ökologiebewegung blieb von den anfänglich fantastischen Vorstellungen vom "gelebten Kommunismus" und vom "neuen Menschen" und der Destruktion aller Sozialbeziehungen, wie sie Rainer Kunzelmann zeitweise propagierte, nichts übrig.

Steffen Andreae berichtete über das Leben in der bis heute existierenden und florierenden Kommune Niederkaufungen bei Kassel. Dank intelligenter und umweltbewusster Organisation ihrer Arbeit und ihres Lebens erwirtschaftet die Kommune monatlich rund 50.000 Euro und kommt mit einem Budget von rund 900 Euro pro Mitglied aus.

Beichtstühle im Netz

Oliver Leistert, Kommunikationswissenschaftler in Budapest, entzauberte in seinem sehr informativen Beitrag Facebook und andere Social Media als "Beichtmaschinen", deren Gemeinschaftlichkeit darin bestehe, dass sich "alle User selbst viel zu wichtig nehmen" und dem Datenschatzhorter das Material für lukrative Geschäfte mit der Meinungs- und der Konsumforschungsindustrie gratis ins Haus liefern. Nachdrücklich demontierte Leister die Vorstellung von einer Facebook-Rebellion in Nordafrika, die er als eine Suggestion fürs westliche Fernsehpublikum betrachtet.

Claus Leggewie schlug den Bogen von der sozialwissenschaftlichen Debatte zur Ausstellung mit den Videos von Aernout Mik. Er benützte die Gelegenheit für eine gewagte These zu zeitgemäßer politischer Kunst: Agitprop, Staatskünstlertum, l'art pour l'art und anderes seien passé, "das hatten wir" - so Leggewie. Für "kitschig, idiotisch und zerdacht" hält er mit kargen Mitteln operierende Kunstwerke wie Hans Haackes "Die Bevölkerung" (1999) im deutschen Reichtagsgebäude. Haacke setzte das politische Problem des Zusammenlebens von Deutschen und Nicht-Deutschen mit einem einzigen Wort - "Die Bevölkerung" - in ein stimmiges Bild um.

Strittig bleibt, ob die stummen Akteure in den opulenten Videofilmen von Aernout Mik den hybriden Anspruch erfüllen können, als "Sprechchöre Gemeinschaften im Kopf der Betrachter" ästhetisch umzusetzen und verlogene Gemeinschaftsbilder zu "unterwandern und zu dekonstruieren", wie Leggewie das formulierte, oder ob sie nicht eher stumm bleiben.

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