Medienlandschaft in Japan: Die langweiligste Presse der Welt

Wie ein weltweit einzigartiges System regierungsnaher Journalistenclubs Informationen unterdrückt. Anatomie einer kulturell bedingten Selbstzensur.

Willkommen im Club: Loyale Insider-Journalisten interviewen Yukio Hatoyama nach seinem Wahlsieg 2009. Bild: dpa

Was den Umgang der Japaner mit Informationen und Medien für uns so schwer verständlich macht, soll folgende Geschichte zeigen. Sie ist zwar fiktiv, aber doch das Kondensat einer Reihe von Vorfällen aus der jüngeren Vergangenheit.

Endlich geht's los! Der junge Journalist Ryu Sato, seit zwei Monaten in der Politikredaktion der weltgrößten Tageszeitung Yomiuri Shimbun (Auflage 14 Millionen), hat seinen ersten "Fronteinsatz" im mächtigen Wirtschaftsministerium. Es ist schon 20 Uhr ist und niemand weiß, ob das Briefing noch an diesem Abend stattfindet, deswegen muss Sato als Jüngster im Redaktionsteam zunächst allein hinfahren. Für alle Fälle.

Da nichts mehr passiert, übernachtet er in einem für ihn reservierten Bett und arbeitet ab frühmorgens an seinem eigenen Schreibtisch im Ministerium. Bis der Termin des Briefings auf den Anzeigentafeln erscheint, sind sein Team und die Kollegen der größten Zeitungen und Fernsehsender des Landes eingetroffen. Auch das Thema ist angeschrieben: Bis zum Ende des Briefings darf nun niemand mehr darüber schreiben.

Ministeriumssprecher Honda betritt den Konferenzraum und nickt dem Neuling kurz zu. Welche Ehre! Sato verneigt sich tief. Die Meldung: Seit dem großen Erdbeben gibt es leicht erhöhte Strahlungswerte in Japans einzigem Zwischenlager Rokkasho. Es bestehe keine Gefahr für die Gesundheit, und die Fertigstellung der geplanten Wiederaufbereitungsanlage an diesem Ort werde dadurch auch nicht verzögert, versichert Honda.

Es werden keine Fragen gestellt. Die Kollegen von Yomiuri und den anderen großen Blättern Asahi (11,5 Millionen), Mainichi (5,2 Millionen), Nihon Keizai (4,7 Millionen) und Chunichi Shimbun (4,2 Millionen) tauschen ihre Notizen aus und sind sich einig, den Ball flach zu halten, Japan habe grad schon genug Probleme. Abends gleichen alle Redaktionen wie üblich bei Meldungen mit größerer Tragweite ihre Druckfahnen ab.

Als Sato nachts nach Hause kommt, erfährt er von seiner Freundin, die sich regelmäßig auf 2channel, dem größten anonymen Internetforum der Welt, informiert, was wirklich passiert ist: Fischer in Rokkasho berichten schon seit längerem von Mutationen in ihrem Fang; Bauern kommen mit blutenden Augen und Ohren zum Arzt. Davon steht in den folgenden Tagen nichts in den großen Zeitungen.

Erst eine Woche später beleuchtet die angesehene Monatszeitschrift Bungei Shunju die Hintergründe in zwei exzellent recherchierten Artikeln. Das vermeintliche "Zwischenlager" Rokkasho wird schon lange und ohne gesetzliche Grundlage als oberflächennahes "Endlager" für mehr als 3.000 Tonnen hochradioaktive Abfälle aus ganz Japan genutzt.

Am nächsten Tag entschuldigt sich die Betreibergesellschaft Japan National Fuel Ltd. in einem privaten Fernsehsender für den illegalen Betrieb und die schlechte Sicherung der Deponie sowie den Austritt nicht weiter spezifizierter Mengen an Radioaktivität. Wieder einen Tag später berichten endlich auch der staatliche Fernsehsender NHK und alle großen Zeitungen. Doch wegen einer rigiden Redaktionsordnung sind jetzt nicht mehr kompetente Politikredakteure zuständig, sondern Gesellschaftsreporter, die ganz von vorn anfangen müssen.

So oder ähnlich würde es sich wohl abspielen, wenn Rokkasho ebenso kriminell betrieben würde wie Fukushima Daiichi. Anlass zu dieser provokanten Fiktion gibt die Tatsache, dass seit einer Meldung vom 12. März über den Ausfall der Kühlsysteme absolute Funkstille zu diesem größten und umstrittensten japanischen Nuklearprojekt herrscht. Warum wird darüber nicht berichtet?

Medien-Supermacht Japan

Japan ist, quantitativ betrachtet, eine Medien-Supermacht. Jährlich erscheinen drei Milliarden Wochen- und Monatszeitschriftsexemplare sowie 25 Milliarden Tageszeitungsexemplare. Sie haben eine einzigartig stabile wirtschaftliche Basis, denn sie werden zu 95 Prozent an Abonnenten verkauft, und die Anzeigenerlöse machen durchschnittlich nur knapp ein Drittel ihrer Einkünfte aus.

Der staatliche Sender NHK ist der drittgrößte nach der BBC und den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland. Das börsennotierte soziale Netzwerk Mixi hat derzeit über 20 Millionen Nutzer, Facebook holt mit 6 Millionen Nutzern auf. Das erwähnte anonyme Internetforum 2channel kommt auf über 10 Millionen japanische Nutzer pro Monat. Dort wurden durch Insiderinformationen zahlreiche politische und wirtschaftliche Skandale aufgedeckt. Auch bei der Pro-Kopf-Nutzung von Mobiltelefonen, E-Mail, Fernsehen und Breitbandinternet ist Japan weltweit führend.

Das Problem ist die Qualität der Medieninhalte. Im Fernsehen dominieren Kochsendungen aller Art, und auch die Printmedien sind voll von der wirklich großen Leidenschaft der Japaner. Ansonsten gibt es viel Klatsch, Quatsch und Empörung über Gewalt- und Sexualdelikte. Die politische und wirtschaftliche Berichterstattung wird dagegen von einem weltweit einzigartigen System von Presseclubs kontrolliert.

Nur die größten Zeitungen und Sendeanstalten haben Zutritt zu den 800 Clubs, die direkt in den Gebäuden von Regierung, Parlament, Ministerien, Verbänden, Großindustrie und kaiserlichem Hof untergebracht sind. Die dort akkreditierten Journalisten sind auf Vollzeitbasis für den jeweiligen Club tätig. So definiert sich ein enger Kreis der Insidermedien, die nur die ihnen zugespielten Fakten veröffentlichen, um ihre Mitgliedschaft nicht zu verlieren.

Mediale Anästhesie

Dadurch entsteht eine gerade in Krisenzeiten fast surreale Atmosphäre aus Beschwichtigung und medialer Anästhesie, die viele westliche Beobachter als Tugend der Zurückhaltung missverstehen oder als eine Eigenschaft der bildhaften, aber häufig unbestimmten japanischen Sprache. Folgerichtig gilt die japanische Presse als die langweiligste der Welt – die Insidermedien haben in den letzten 30 Jahren nicht einen einzigen Skandal aufgedeckt. Lediglich die Outsidermedien, in unserer Geschichte das Magazin Bungei Shunju, sind von der Zwangsjacke der einheitlichen, abgesprochenen Berichterstattung befreit.

Immerhin zeigen sich seit dem Regierungsantritt der Demokraten 2009 nach über 50 Jahren fast durchgehender Herrschaft der Liberaldemokratischen Partei erste Tendenzen zur Auflösung dieses paradoxen Systems. Die Öffnung der Presseclubs für alle Medien, auch für ausländische, ist inzwischen ein ständiges Thema. Reporter ohne Grenzen sieht die japanische Presse 2009 weltweit auf Rang 17, 2006 lag sie noch auf Rang 52. Die hier beschriebenen Einschränkungen der Medien gehen also nicht auf die Interventionen staatlicher oder wirtschaftlicher Interessengruppen zurück, sondern weitgehend auf eine kulturell bedingte Selbstzensur.

Was in Japan noch fehlt, das ist eine entwickelte Sprache zur Reflektion über die öffentliche Ordnung, die Intellektualität, Scharfsinn, Empörung, Polemik und wissenschaftlich fundierte Kritik mit politischen und wirtschaftlichen Themen verbindet und damit ein größeres Publikum erreicht. Die gegenwärtige japanische Krise und die wachsende Ungeduld eines gebildeten Publikums scheinen die Entstehung einer solchen neuen Medienkultur allerdings zu beschleunigen – und der Skandal von Rokkasho bleibt hoffentlich Fiktion.

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