Bundesparteitag der Piraten: Kernis gegen Vollis

Vor einem Jahr war die Piratenpartei der Schrecken des politischen Spektrums und holte zwei Prozent auf Bundesebene. Nach Monaten der Stille versucht sie jetzt ihr Comeback.

Alles nur ein kurzer Traum? 550 Piraten debattieren ihr Programm für die kommenden Wahlen. Bild: dpa

BERLIN/CHEMNITZ taz | Es ist Samstagvormittag, 10.30 Uhr. Offiziell läuft der Chemnitzer Bundesparteitag der Piratenpartei schon seit einer halben Stunde. Einige Piraten packen ihren Proviant, andere machen Kartenspiele am Computer. Christopher Lauer läuft hektisch auf und ab.

Noch vor wenigen Tagen hat er in einem Berliner Café ganz entspannt erzählt, dass sich in den ersten dreißig Minuten entscheiden wird, wie dieser erste Programmparteitag der Piratenpartei laufen wird. "Entweder es wird ruhig und konstruktiv, oder wir fahren das gegen die Wand", hat er gesagt. Bislang passiert keins von beidem.

Das Wlan funktioniert nicht in der Mensa der Universität. Und das heißt bei der Piratenpartei: kein Zugriff auf die Anträge, über die abgestimmt werden soll. Oder auf die Geschäftsordnung. Oder auf Twitter.

Lauer ist angespannt. Er hat viel Arbeit in diese Veranstaltung gesteckt. Sie inhaltlich vorbereitet, Anträge gesichtet und geordnet. Und mitgeschnitten, welches Thema wie auf "Liquid Feedback" diskutiert wird; das ist die Piratensoftware für interne Meinungsbildung. Auch sein Baby. Der 26-jährige Student mit schwarzer, eckiger Brille und grünem Rautenpullover unterm Jackett hängt sich rein. Er will, dass sich seine Piratenpartei professionalisiert. Und thematisch öffnet.

Das nächste Jahr wird wichtig für die Piratenpartei. Sie tritt bei diversen Landtagswahlen im kommenden Jahr an, hofft, irgendwo über die Fünfprozenthürde zu hüpfen, vielleicht in Baden-Württemberg, wo man sich doch gerade so für Bürgerbeteiligung interessiert.

Wirklich gut stehen die Chancen dafür allerdings nicht. Das sagt zwar niemand hier gern direkt - man kann es aber aus vielen Antworten heraushören. Auch Parteichef Jens Seipenbusch, Administrator aus Münster, reagiert gereizt auf die Frage, ob er den Einzug in die Landesparlamente wirklich für realistisch hält und wie das funktionieren soll. "Ich bin kein Wahlforscher, ich will nur fünf Prozent holen", sagt der 42-Jährige.

Seine Piraten bräuchten dringend mal wieder einen Erfolg. Denn bei den NRW-Wahlen im Mai holten sie gerade mal 1,5 Prozent. In den Medien liest man kaum noch etwas von ihnen - selbst wenn es um ihre Themen wie Internet und Bürgerrechte, die Stadtansichten von Google Street View oder das Handelsabkommen Acta geht. Seipenbusch und seine Leute müssen aufpassen, dass die Öffentlichkeit sie nicht vergisst.

In Chemnitz sind 550 Piraten aus ganz Deutschland angereist, das sind über zweihundert Teilnehmer weniger als erwartet. Um viertel nach elf eröffnet Seipenbusch schließlich offiziell den Parteitag. Bedankt sich höflich bei allen, zitiert ein bisschen Helmut Schmidt und ein bisschen Albert Einstein. Seine Themen - Vorratsdatenspeicherung und Stoppschilder für Kinderpornografie im Netz - waren schon 2009 aktuell. Weil mehr nicht kommt, wirkt seine Rede wie eine aus dem letzten Jahr.

Damals war die Piratenpartei plötzlich in aller Munde, hatte 12.000 Mitglieder und holte bei der Bundestagswahl zwei Prozent.

Der Applaus für Seipenbusch ist verhalten. Kein Wunder. Der Vorsitzende gilt in der Partei als angezählt. Mitglieder werfen ihm vor, er sei für Medien und Piraten zu schwer erreichbar. Zudem habe er wenig Lust auf Neues.

Auch der Bundesvorstand ist zerstritten. Es gebe "persönliche Konflikte", bestätigt Seipenbuschs Stellvertreter, Andreas Popp. Beim Parteitag rauft man sich zusammen, weil klar ist, dass in Chemnitz ohnehin nicht über Personalien verhandelt wird. "Wir wollen alle die Amtszeit noch rumbringen", sagt Popp. "Aber es tut uns gut, wenn wir uns nicht länger als nötig aneinander binden."

Im Februar oder März könnte neu gewählt werden. Ob er noch einmal als Parteichef kandidiere, werde er kurzfristig entscheiden, sagt Seipenbusch später.

Am Samstagmittag sieht es aus, als hätten sich die Piraten entschieden, diesen Parteitag mit vollem Karacho an die Wand zu fahren, so tief verstricken sie sich in interne Querelen. Ein Geschäftsordnungsantrag jagt den nächsten. Die Abstimmung, die die Tagesordnung festlegen soll, ist noch immer nicht fertig ausgezählt. Und die Wahl des dritten Versammlungsleiters dauert auch schon ewig.

Die Piraten kichern und buhen und stöhnen hinter den Rechnern hervor. Plötzlich wirkt es, als hätte sich einfach ein Haufen pubertierender Jungs verabredet, mal ein bisschen Partei zu spielen. Dann wird auch noch ein Pirat vom Parteitag ausgeschlossen, weil er einem Kontrahenten das Delegiertenbändchen vom Arm gerissen hatte. "Kindergarten", konstatieren Mitpiraten im Netz.

"Man erwartet von der Piratenpartei ja auch ein gerüttelt Maß an Dilettantismus", hat Lauer wenige Tage zuvor noch in Berlin gesagt. "Es wäre doch auch gruselig, wenn nach einem Jahr ein Haufen kleiner Guttenbergs aus der Partei rausgepurzelt kämen." Leicht gesagt, damals. Jetzt muss er verhindern, dass sein Parteitag ein Desaster wird.

Lauer poltert in einem Duktus irgendwo zwischen politischem Aschermittwoch, Westerwelle und Fischer gegen die Bundespolitik, gibt den Piraten das Gefühl, unverzichtbar zu sein. Und wirbt für eine Erweiterung des Parteiprogramms. Er macht den Anti-Seipenbusch. Rhetorisch und inhaltlich. Die Piraten jubeln. Und fangen nach zwei weiteren Stunden zäher Strukturdebatten tatsächlich an, über den ersten inhaltlichen Programmantrag zu diskutieren.

Dass es bis dahin so lange gedauert hat, das sei eine Strategie der "Kernis", sagt ein Pirat hinten im Saal. Das sind die Piraten, die nur Netzthemen im Programm stehen haben wollen. Den Markenkern der Partei. Je länger alles dauert, desto weniger der 320 Programmanträge werden diskutiert. Was gut wäre, für die Kernis. In Chemnitz haben aber ihre Gegenspieler, die "Vollis" viele Anträge eingereicht, in denen es, von Drogen- bis Energiepolitik, um alle möglichen Themen geht, die sie gern ins Piratenprogramm aufnehmen würden. Um nicht mehr nur Einthemenpartei zu sein, der die etablierten Parteien mit ihrem neu entdeckten Interesse am Internet die Butter vom Brot nehmen.

Der NRW-Verband hat bei vergangenen Landtagswahlen wenig Erfolg mit dieser Strategie gehabt. Parteienforscher wie der Berliner Professor Oskar Niedermayer warnen vor dem Schritt. Niedermayer rät der Partei, sich lieber auf ihren Markenkern zu konzentrieren, um netzaffine Wähler stärker an sich zu binden, bevor sie sich breiter aufstellt.

Kernis gegen Vollis, das ist bei den Piraten auch ein Nord-Süd-Streit. Viele Landesverbände im Norden, darunter vor allem der Berliner, wollen in Chemnitz viele neue Themen ins Programm aufnehmen. Die südlichen Landesverbände, darunter vor allem Bayern und Baden-Württemberg, versuchen zu bremsen - weil sie Parteiklientel und Wähler im eigenen Land nicht abschrecken wollen.

Da sei man eben ein "bissle konservativer", sagt Sebastian Nerz, oberster Pirat von Baden-Württemberg. Kurz vor der Wahl kann er nicht gebrauchen, dass die Partei sich etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen ins Programm schreibt. "So einen Beschluss würde man in Stuttgart sicher negativ sehen."

Doch nur wenige Stunden später entscheidet sich der Parteitag für das Grundeinkommen. Mit einer deutlichen Zweidrittelmehrheit. "Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe" heißt der Antrag, in dem nach langen parteiinternen Debatten das Wort "Grundeinkommen" nicht vorkommt, aber das Anliegen umschrieben wird. Ein toller Antrag, weil er so allgemein gehalten ist, finden viele Piraten. Eine Vision, an deren Ausgestaltung man dann arbeiten könne.

Als Parteichef Seipenbusch bei seinem Statement gegen den Antrag nach Überschreitung der Redezeit das Mikrofon abgedreht wird, applaudiert der Saal. Sein Mitvorstand Lauer nennt den Antrag eine "historische Chance", Jubel brandet auf. Um kurz vor acht ist der Passus verabschiedet. Und die Stimmung euphorisch. Endlich ein Schritt nach vorn.

Noch am selben Abend setzt man sich bis spätabends zusammen, diskutiert, wie die Finanzierung dieses "Lebens in Würde" aussehen könnte. Den Grundeinkommen-Verfechter Lauer rufen mehrere Piraten derweil schon als nächsten Parteivorsitzenden aus. Nur auf Twitter, natürlich.

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