Ein Jahr nach Winnenden: "Die Gewalt befindet sich nebenan"

Ihre Tochter kam am 11. März 2009 beim Amoklauf in Winnenden ums Leben. Seitdem kämpft Gisela Mayer gegen die Gleichgültigkeit. Ein Protokoll.

29. Juli 2009: Diese Waffen wurden im Nachgang des Amoklaufs von Winnenden vernichtet. Bild: ap

Manchmal fühle ich mich, als ob ich gegen Betonwände renne. Das macht das Rennen aber nicht überflüssig. Man muss es ja zumindest versuchen, in der Hoffnung, dass so eine Wand irgendwann Risse bekommt, dass sie nachgibt.

Ein paar davon gibt es heute schon. Es ist eine Diskussion in Gang gekommen. Es gibt immer noch Gegner, aber bei mir und bei dem Aktionsbündnis haben sich viele Menschen gemeldet. Sie sagen: Gott sei Dank, endlich sagt jemand was, wir sehen jetzt wieder Hoffnung.

Vor einem Jahr standen noch alle unter Schock. Damals hat man zugehört und versucht, ganz schnell zu reagieren. Dann, nach einem Vierteljahr vielleicht, wollte niemand mehr etwas von Winnenden wissen. Es war Sommer, die Leute hatten keine Lust mehr und wollten einfach ihre Ruhe haben. Ich verstehe das, ich war ja selbst so. Natürlich müssen wir normal weiterleben, aber wir müssen auch unsere Lehren ziehen aus dem, was am 11. März passiert ist.

Dass das Waffenrecht geändert wurde, war ein Erfolg für mich und das Aktionsbündnis, auch wenn wir die Effektivität bezweifeln. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben ein zögerlicher. Ein Amokläufer agiert entschlossen und zielgerichtet. Wir müssen dasselbe tun, mit einer Trennung von Waffe und Munition zum Beispiel, oder einer biometrischen Sicherung.

Der eigentliche Erfolg im Waffenrecht ist deshalb, dass ein Gespräch zustande gekommen ist, dass man sich nun darum kümmert, wie viele Schusswaffen in diesem Land in privatem Besitz sind. Die Zahlen, die da auf den Tisch kamen, haben uns mehr als schockiert.

Die ganze Diskussion um das Waffenrecht hat mich aber auch traurig gemacht. Ich hatte eine vollkommen andere Reaktion der Schützenverbände erwartet. Ich dachte, man kooperiert mit uns. Ich hatte geglaubt, dass die Verbände selbst daran interessiert sind, mit uns zusammenzuarbeiten.

Stattdessen wurde ich bitter enttäuscht, es ging genau anders herum. Man hat sich gegen unsere Ziele gerichtet und sich angegriffen gefühlt und diffamiert. Wir mussten hart daran arbeiten, dass man überhaupt mit uns spricht.

Manchmal ist es schwer zu begreifen, dass nicht einmal der Tod Argument ist, um Verständnis zu bekommen. Aber der Tod unserer Kinder zwingt uns auf der anderen Seite auch dazu, weiterzumachen. Es kann einem einfach nichts Schlimmeres passieren. Deshalb darf es nicht sein, dass das, was passiert ist, einfach so im Sande verläuft.

Nach dem Amoklauf habe ich mich oft entmündigt gefühlt, jetzt geht es mir besser. Die Öffentlichkeit, viele Retter und andere Helfer haben uns teilweise bevormundet. Sicher wollten sie uns vor schlimmen Erfahrungen und Bildern schützen. Diese Entmündigung war aber letztlich verletzend. Heute hört man mir zu, wenn ich etwas sage, und manches ist angekommen - allerdings nicht in dem Maße, wie ich mir das wünschen würde.

Um die Killerspiele ist es heute leider still geworden, für mich ist das eine Enttäuschung. Mir war zwar klar, dass die Versprechungen der ersten Tage in dieser Form nicht eingehalten werden. Aber es provoziert ungeheuer, dass man so schnell zur Ruhe zurückgekehrt ist, zu so einer selbstzufriedenen Haltung. Das ist verletzender als manches andere, weil man diese Selbstzufriedenheit nicht begreifen kann. Hätten Sie mir vor einem Jahr gesagt, dass meine Tochter bei einem Amoklauf ums Leben kommt, hätte ich Sie ausgelacht.

Diese Haltung bemerke ich jetzt bei anderen Menschen. Wir haben auch geglaubt, es würde uns niemals betreffen. Heute kann ich dieses Denken nicht mehr verstehen. Ist euch eigentlich klar, wie nah ihr am Geschehen seid? Die Gewalt findet nicht auf einem anderen Stern statt! Sie befindet sich nebenan. Dass man das nicht wahrnimmt, verletzt mich. Dieses Denken, man sei selbst überhaupt nicht betroffen, kann ich nicht akzeptieren.

Wir sind wahnsinnig vorsichtig, wenn es um unsere Kinder geht, wir passen auf mit Nikotin und Schadstoffen, das Spielzeug hat extra abgerundete Ecken und überall gibt es Jugendschutz. Trotzdem lassen wir zu, dass unsere Kinder sich stundenlang damit beschäftigen, wie man andere Menschen umbringt. Und dann erwarten wir, dass es sie überhaupt nicht verändert, nicht betrifft! Das ist eine grenzenlose Gleichgültigkeit und Naivität. Die Jugend muss man vor so etwas schützen, und das geht nicht, indem man bunte Märkchen auf Packungen klebt und sagt: Jugendfreigabe ab 18. Aber dahinter steht einfach eine Wirtschaftsmacht. Nächstes Jahr wollen wir uns deshalb deutlich zu Wort melden und Veränderungen fordern.

Im Alltag höre ich oft: Jetzt ist es doch schon so lange her, schon ein Jahr, es geht euch doch bestimmt besser und ihr habt das doch bestimmt schon überwunden. Das sind Bemerkungen, die deutlich machen, dass das Gegenüber gerne seine Ruhe hätte. Manchmal spüre ich, dass ich Menschen störe. Ich erinnere sie daran, wie unsicher unsere Existenz ist, wie viel Böses es gibt und wie unkalkulierbar es ist. Wenn ich erscheine, ist das manchen Leuten unangenehm, weil man mit mir diesen Amoklauf assoziiert. Ganz klar, dass ich ein Störenfried bin.

Es gibt eine Entwicklung in dieser Gesellschaft, die ich "technizistisch" nenne. Wir lassen unsere Kinder von Maschinen erziehen, deshalb lernen sie auch, sich wie Maschinen zu verhalten. Wir rufen dann, dass es keine Empathie mehr gibt. Dabei sind wir selber schuld.

Viele junge Menschen nehmen heute Beleidigungen und Verletzungen überhaupt nicht mehr als Gewalt war. Das macht hilflos. Wie soll ich denn jemandem erklären, dass man ihn beleidigt, ihn verletzt hat, wenn er das gar nicht versteht? Fälle wie der von Dominik Brunner erschrecken mich deshalb. Die Diskussion darum ging aber an der Sache vorbei. Wir brauchen kein härteres Jugendstrafrecht. Es muss nur konsequenter angewandt werden. Und wir müssen herausfinden, wo die Gründe für diese extreme Jugendgewalt liegen. Wieso muss man den Gegner töten, wenn er hilflos am Boden liegt? Weshalb gibt es keine Grenzen mehr? Ich fürchte mich vor dem, was sich da entwickeln kann.

Unsere Kinder stehen heute unter enormem Druck. Sie sollen mit zwanzig drei Jahre Berufserfahrung und fünf Praktika haben. Es geht nur noch um Noten und Erfolg, scheitern dürfen sie auf gar keinen Fall. Wir treiben unsere Kinder vor uns her, weiß Gott, wo sie ankommen sollen. Ich verstehe die Angst der Eltern, sie stehen ja selbst unter Druck. Aber die Kinder haben oft keine Freunde mehr, sie sehen nur noch Nebenbuhler.

Deshalb wollen wir das Schulfach "soziale Kompetenz" einführen. Wir haben das schon der Politik vorgeschlagen. Die Reaktionen auf Lehrerseite waren bis jetzt sehr positiv, die sind ja am meisten belastet. Von ihnen werden heute Dinge gefordert, die zu Hause nicht mehr geleistet werden. Viele Eltern wehren allerdings ab, jeden Fehler des Kindes, jede Maßregelung, verstehen sie als Angriff gegen sich.

Mit Winnenden wurde viel Politik gemacht. Es ist natürlich nie angenehm, wenn man instrumentalisiert wird, auf der anderen Seite denke ich aber auch ganz pragmatisch: Das Aktionsbündnis und ich, wir wollen unsere Ziele erreichen. Auch wenn wir das nur teilweise tun, ist es besser als nichts.

Im Moment werden wir überrollt von einer Lawine medialen Interesses, fast so groß wie vor einem Jahr. Damals hatten wir überhaupt nicht damit gerechnet. Es gab sehr unsensible Journalisten, die nur Tränen sehen wollten und Verzweiflung. Trotzdem habe ich heute ein gutes Verhältnis zu den Medien, auch wenn dieses Interesse im Moment auch eine Belastung ist, allein zeitlich. Ich arbeite nach wie vor als Lehrerin und versuche den Rest in meiner Freizeit zu managen. Meine Wochenstunden zähle ich schon gar nicht mehr, die Wochenenden haben wir vorläufig abgeschafft. Trotzdem ist es schön, zu sehen, dass man an uns denkt. Wir fürchten uns davor, in drei Monaten wieder vergessen zu sein.

Vor dem Jahrestag des Amoklaufs am 11. März habe ich Angst. Ich werde bei der Gedenkfeier sein, die die Schule veranstaltet. Da sind nur Schüler, Lehrer und Eltern. Dafür werden wir in die Schule gehen müssen, an den Ort des Geschehens. Das wird der schlimmste Teil des Tages werden. Dem stehe ich noch sehr unsicher gegenüber. Danach werde ich am offiziellen Gedenkakt teilnehmen und am Ende des Tages laden wir mit dem Bündnis der Eltern zu einem Vortrag ein. Das ist der Übergang zu dem, was wir tun werden. Das heißt, das Ende des Tages wird der Ausblick auf die Zukunft sein.

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