Professor über UN-Konvention: "Bürger können gegen Sonderschulen vorgehen"

Deutsche Sonderschulen widersprechen der UN-Konvention über behinderte Menschen, sagt Professor Poscher. Erstmals gibt es ein Beschwerderecht gegen diese Schulform.

Die UN-Konvention geht davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der Kinder mit Behinderung eine normale Schule besuchen können. Bild: dpa

taz: Herr Poscher, Deutschland hat die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen unterzeichnet und verpflichtet sich darin zu einem "integrativen Schulsystem". Das Dokument soll bald ratifiziert werden. Muss Deutschland seine Sonderschulen dann schließen?

Ralf Poscher: Nicht sofort, aber das System muss umgestellt werden. Ein ausgeprägtes Sonderschulwesen wie das deutsche widerspricht dem Geist der Konvention. Die Konvention geht davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der Kinder mit Behinderung eine normale Schule besuchen können und nur noch ein kleiner Teil eigenständige Fördereinrichtungen benötigt. Im Moment ist das Zahlenverhältnis in Deutschland etwa umgekehrt - je nach Bundesland mehr oder weniger.

Welche Länder müssen sich besonders anstrengen?

Großen Anpassungsbedarf gibt es etwa in Baden-Württemberg. Gemeinsamer Unterricht ist dort rechtlich noch die Ausnahme und nicht die Regel. Andere Länder sind zwar weiter, haben aber oft einen Kapazitätsvorbehalt, wie etwa Nordrhein-Westfalen. Einen Platz an einer allgemeinen Schule gibt es für ein behindertes Kind nur, wenn auch genug Sonderpädagogen zur Verfügung stehen. Der nächste Schritt wäre, einen wirklichen Rechtsanspruch zu schaffen. Am weitesten sind in dieser Hinsicht Bremen und Berlin.

Was passiert, wenn die Länder gegen die Konvention verstoßen?

Die Konvention formuliert ein anspruchsvolles Ziel, das wohl kein Bundesland bislang erreicht. Noch ist die Konvention ja auch nicht ratifiziert. Aber selbst dann verpflichtet sie die Staaten nicht, bereits zum Zeitpunkt der Ratifikation das anspruchsvolle Ziel erreicht zu haben.

Wie viel Zeit lässt das Übereinkommen?

Die Konvention setzt keine Frist.

Ist das nicht eine Einladung zum Trödeln?

Nicht unbedingt. Bei den Vereinten Nationen wird mit der Konvention ein Behindertenrechtsausschuss geschaffen, der über die Umsetzung wacht und regelmäßig Bericht erstattet. Die Besonderheit liegt darin, dass Verbände und sogar einzelne Bürger den Ausschuss anrufen und Mängel melden können. Die Behindertenrechtskonvention ist die erste Konvention zu sozialen Rechten, die einen solchen Mechanismus vorsieht. Das kann die Vertragsstaaten natürlich unter Druck setzen.

In der deutschen Übersetzung der Konvention ist von einem integrativen Schulsystem die Rede, im Originaltext von einem inklusiven. Versucht Deutschland sich mit Fehlübersetzungen aus der Verantwortung zu stehlen?

Der Begriff Inklusion geht weiter als der der Integration. Inklusion heißt, dass sich die Institutionen den Menschen mit Behinderung anpassen müssen, nicht umgekehrt. So geht das Inklusionskonzept davon aus, dass an allgemeinen Schulen besondere Bildungsabschlüsse für Menschen mit Behinderungen vorgesehen werden. Völkerrechtlich bindend ist nicht die Übersetzung, sondern der Originaltext - und der zielt eindeutig auf Inklusion.

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