Die Macht der Künstler und der Institutionen

MODERNE Marcel Duchamp wollte vor hundert Jahren mit den Readymades etwas Unverkäufliches schaffen. Das ist ihm gründlich misslungen

■ Spätwerk: „Die nackte Wahrheit“ von Duchamp-Kenner Herbert Molderings zu dessen Spätwerk (Carl Hanser Verlag, München 2012, 244 S., 48 s/w Abb., 18,90 Euro): eine gelehrte Interpretation von vielerlei Spuren.

■ Spannend: Rudolf Herz’ Untersuchung zum Münchenaufenthalt Duchamps 1912 und seiner damaligen Unterkunft, die Herz als „Wiege der konzeptuellen Kunst“ interpretiert („Le Mystère de Munich“. Moser Verlag, München 2012, 332 S., 59 Euro).

■ Unbekanntes: Thomas Girst ist einer der interessantesten jüngeren Duchamp-Forscher. In der Poiesis-Reihe des Duchamp-Forschungszentrums des Staatlichen Museums Schwerin erscheint nun sein Band „The Indefinite Duchamp“ (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2013, 336 S., 71 Abb., 24,80 Euro), mit Zeitzeugen-Interviews, die unbekannte Aspekte seines Werks ins Spiel bringen.

VON WOLFGANG ULLRICH

Eines der berühmtesten philosophischen Objekte ist die Tonne des Diogenes. In ihr hauste der kynische Weise, und er drehte sie immer so, dass die Sonne hineinscheinen konnte. Als ihn eines Tages Alexander der Große besuchte und neugierig nach seinen Wünschen fragte, gab Diogenes die legendäre Antwort: „Ich will vor allem, dass du nicht zwischen mir und der Sonne stehst.“ Statt Reichtum, Privilegien oder Ehrbezeugungen zu erbitten, wollte Diogenes nur ungestört genießen, was die Natur ihm einfach so bot. Seine Tonne wurde zum Symbol einer Antihaltung. In ihr drückte sich die Ablehnung zivilisatorischer Errungenschaften und gesellschaftlicher Konventionen aus.

Für den mexikanischen Schriftsteller Octavio Paz ist Marcel Duchamps Readymade „seine Tonne des Diogenes“. Er, der Duchamp persönlich gut kannte und mit „Nackte Erscheinung“ eines der klügsten Bücher über ihn geschrieben hat, verstand das Readymade als Symbol von Verweigerung und Kritik. Dass ein Gebrauchsgegenstand allein durch die Auswahl des Künstlers als Kunstwerk wahrgenommen wird, untergräbt aus seiner Sicht jeglichen Begriff von Werk. Das Readymade stelle eine „Verneinung gegenüber dem Werk“ dar, es „postuliert keinen neuen Wert: es verspottet das, was wir Wert nennen“. Folgt man Paz, kannte die Moderne keinen größeren Spötter als Duchamp. Durch ihn – seine Geste – wurde offenbar, dass Kunst nichts mit Schönheit, gutem Geschmack oder Handwerk zu tun zu haben brauchte. Alles, was man über sie glaubte, war vielmehr gesellschaftliche Konvention.

Als Duchamp 1913, genau vor hundert Jahren, in seinem Pariser Atelier Gegenstände wie ein Fahrradrad (zusammen mit der Gabel auf die Sitzfläche eines Küchenhockers montiert) oder einen Flaschentrockner aufstellte, ging es ihm darum, so sagte er selbst später, etwas dingfest zu machen, das „keinerlei ästhetische Emotionen hervorruft“ und so indifferent ist, dass es sich jenseits aller Geschmacksfragen hält und damit nicht bewertbar ist. Ihn reizte ein ontologischer Sonderfall, die Frage, ob es Dinge geben könne, die weder Kunst noch Nichtkunst sind – die somit in keine Schublade der Seinsordnung passen.

Von der Kunst erlösen

Damit ähnelt Duchamp aber weniger Diogenes als einer anderen philosophischen Schule der Antike: der pyrrhonischen Skepsis. Ihre Vertreter strebten nach Indifferenz in allen Lebensbereichen, davon überzeugt, dass der Mensch nur glücklich werden könne, wenn er keine Präferenzen mehr habe und insofern völlig unabhängig sei. So wie die pyrrhonischen Skeptiker Strategien entwickelten, um jede Position und jedes Argument mit einer gleich plausiblen Gegenposition und einem gleich starken Gegenargument beantworten zu können, lassen sich Duchamps Readymades als der Versuch ansehen, im Ästhetischen jene Gleichgültigkeit zu erlangen und damit von allem Eifer hinsichtlich der Kunst erlöst zu werden.

Folgt man seinem Biografen Calvin Tomkins, sympathisierte Duchamp tatsächlich mit dem Pyrrhonismus. Da es ihm mit den Readymades eher um ein philosophisches Experiment als um Provokation ging, wollte er sie zuerst auch gar nicht öffentlich auszustellen.

Dafür perfektionierte er ihren Status zwischen allen bekannten Kategorien weiter dadurch, dass er ihnen Titel verpasste, die keinen erkennbaren Bezug zum jeweiligen Objekt besitzen. Wenn ein Kamm aus Stahl bei ihm „Drei oder vier Tropfen von Hochmut haben nichts mit Unzivilisiertheit zu tun“ heißt, sorgt das für eine Aporie: Man weiß erst recht nicht, mit was für einem Typ von Objekt man es zu tun hat. Jahrzehnte später, als man ihn zunehmend gerade wegen der Readymades zu schätzen begann, setzte Duchamp die Totalironisierung fort. So begann er in den 1960er Jahren damit, die Auswahl von Readymades zu delegieren, sie als Multiples eigens herstellen zu lassen oder aber, nachdem die Originale verloren gegangen waren, selbstständig zu rekonstruieren. In jedem einzelnen Fall ergab sich so ein spezieller Seinsmodus, und nun kam es zu Indifferenz schon allein aufgrund undurchschaubar gewordener Verhältnisse.

In der Rezeption erschienen die Readymades jedoch selten als Objekte einer philosophischen Haltung, mit der Duchamp sich von den Ansprüchen der Kunst befreite, der er als eher unglücklicher Maler verhaftet gewesen war. Vielmehr interpretierten die einen die Auswahl von Gegenständen durch den Künstler als Adelung, während andere darin einen nihilistisch-skandalösen Akt erkannten. Ferner wurde das Readymade in eine Nähe zum Objet trouvé gerückt, als sei es weniger gesucht als gefunden: ein Ding von besonders starker Bedeutung, das viel über das findende Subjekt und seine Gefühlswelt aussagen könne. Die Folge davon sind psychoanalytische Deutungen. Auf diese Weise wurde das wohl berühmteste Readymade, ein um 180 Grad gedrehtes Pissoir, 1917 unter dem Titel „Fountain“ entstanden, schnell zu einem Symbol „sexueller Repression“. Weitergehend lässt es sich mit noch mehr Bedeutung aufladen und gar zum „Reflex des ganzen Elends unserer Hygiene“ erklären. Da Duchamp es in den USA erstellte, „verhöhnt“ es diese natürlich auch, sei „dieses Amerika mit seinen Unternehmern“ doch „grenzenlos verarmt in seinem technischen Fortschritt“. Werden bei dieser (zugegeben extremen) Deutung aus den 1970er Jahren Antiamerikanismus und Kulturkritik, dem Zeitgeist entsprechend, auf das Pissoir projiziert, so verhalten sich auch viele andere, moderatere Interpreten gegenüber einem Readymade wie gegenüber einem ganz normalen Kunstwerk: als könne man es als Ausdruck seiner oder jeder beliebigen Zeit behandeln.

Solche Interpretationen verfehlen, was Duchamp selbst mit dem Readymade im Sinn hatte. Allerdings verdankt es seinen epochalen Erfolg – für viele ist es kunstgeschichtlich ähnlich wichtig wie die Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance – gerade dem konsequenten Miss- und Nichtverstehen. Selbst wer sich davor hütet, einzelnen Readymades eine bestimmte Bedeutung zuzuweisen, um sie als besonders wertvoll hervorzuheben, wird nämlich noch lange nicht bereit sein, darin eine Verspottung von Wertzuschreibungen zu erkennen. Im Gegenteil gilt das Readymade heute weithin als die effektivste Strategie der Kunst- und Wertschöpfung. In ihm beweist sich besser als irgendwo sonst die Macht der Künstler sowie der Kunstinstitutionen: Allein dass etwas Profanes exponiert wird, macht es schon zum Kunstwerk, das bestenfalls – man denke an die Staubsauger von Jeff Koons oder reproduzierte Marlboro-Werbung von Richard Prince – einen Millionenpreis kostet.

Der Philosoph Boris Groys geht sogar so weit, in Duchamps Readymade ein Verfahren zu erkennen, das „schon immer und universell angewendet worden war“, nämlich immer dann, wenn es darum ging, etwas Neues zu schaffen. Das entstehe nämlich nicht aus dem Nichts, sondern sofern man den profanen Raum als „Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte“ nutze und etwas aus ihm herausnehme, das man dann mit einem autoritären Akt zu Kunst erkläre. Allein der andere Kontext, in den das Nur-Alltägliche dadurch gerät, verändert seine Bedeutung und seinen Wert. Insofern ist die Geste des Translozierens, wie sie in Reinkultur im Readymade zum Vorschein kommt, die Voraussetzung kulturellen Wandels.

Das Readymade gilt heute weithin als die effektivste Strategie der Kunst- und Wertschöpfung

Es ist klar, dass das Prinzip „Readymade“ unter diesem Blickwinkel unglaublich attraktiv ist. Jeder Künstler möchte sich selbst als der Königssohn erweisen, der aus einem Aschenputtel eine Prinzessin werden lässt, ja möchte das Wunder der Wertschöpfung realisieren. Und hofft dabei, sei’s aus heimlicher Faulheit, sei’s aus Sensationslust, noch Alltäglicheres als seine Vorgänger in etwas noch Teureres verwandeln zu können. Was wurde nicht schon alles herangezogen, um es zu Kunst aufzuwerten und, mit einer Aura des Provokanten und Spektakulären versehen, zu einem Statussymbol derer zu machen, die besonders cool erscheinen wollen? Exkremente, Schmutz, Massenhaftes: Alles sonst Verstoßene hat man mit Kunstwürden umgeben.

Längst haben sich die Kategorien des Kunstmarkts der Idee des Readymade bemächtigt, für Renditerekorde oder Kultivierung der kapitalistischen Spekulation kann grundsätzlich alles beliebig wertvoll sein. Dabei wird vergessen, dass Duchamp seine ersten Readymades nie zu verkaufen suchte.

Eigentlich wollte er mit ihnen sogar etwas Unverkäufliches schaffen, das, indem es jegliche Werthaftigkeit zunichtemacht, nicht nur jenseits des Geschmacks, sondern genauso jenseits des Marktes angesiedelt ist.

Die Praktik des Readymade verlange „völlige Uneigennützigkeit“, bemerkte Octavio Paz. Und insofern ähnelte Duchamp doch Diogenes in seiner Tonne. Der erklärte Geld und Handel kurzerhand für absurd, machte sich immer wieder über die Preise von Waren lustig und wurde schließlich sogar, so ist’s überliefert, zum Münzfälscher.

Der Autor ist Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe