die taz vor sechzehn jahren: ein heine-gedicht zum mauerfall
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Lieber Max von der taz, halleluja! Die Mauer kippt. Was kann ich Dir noch groß fürs Blättchen schreiben. Was jetzt passiert, habe ich 25 lange Jahre herbeigesehnt und herbeigesungen und herbeigeredet. Aber nun, wo der sogenannte große Tag gekommen ist, ist meine Freude viel zu traurig. Gewiß, mir lacht das Herz, aber ich muß auch weinen. Weinen vor Freude darüber, daß alles so leicht und so schnell ging. Und weinen muß ich vor Zorn, weil es so elend lange gedauert hat. Mir geht plötzlich alles zu flott, und es hat mich zuviel Lebenszeit gekostet.

Seit November 1965 bis heute war ich in der DDR verboten. Nun ist es wieder November geworden. Ein Vierteljahrhundert. Der schöne Vers von Heinrich Heine geht mir nicht aus dem Sinn:

Im traurigen Monat November war’s Die Tage wurden trüber, Der Wind riß von den Bäumen das Laub Da reist ich nach Deutschland hinüber Und als ich an die Grenze kam, Da fühlt ich ein stärkeresKlopfen In meiner Brust, ich glaube sogar Die Augen begunnen zu tropfen.

Lieber Max, es ist traurig schön wie im Wintermärchen: Jetzt, schon nächsten Dienstag, soll ich ein Konzert in Ost -Berlin geben dürfen … Meine Gefühle sind ein melancholisches Gemisch aus heller Freude und schwärzester Skepsis. Ich ziehe neue Saiten auf meine alte Weißgerber-Gitarre und überlege das Programm. Welche Lieder soll ich meinen Leuten, die ja nur noch halb meine Leute sind, vorsingen? Die alten Lieder aus meiner DDR-Zeit, oder wollen die vielleicht lieber hören, was einer von ihnen im Westen erlebt hat. Und für die meisten jungen Leute wird jedes Lied neu sein, denn sie waren Kinder, als ich ausgebürgert wurde. Sie mir – und ich ihnen: Wir werden einander gespenstisch vertraut sein und sind uns dennoch fremd geworden. Die langen Jahre! Aber wer weiß.

Wolf Biermann, taz, 11. 11. 1989