Berliner Mauer: Der Osten mitten im Westen

Klein-Glienicke war bis zum Fall der Mauer eine Potsdamer Exklave auf dem Gebiet von Westberlin. Das hat vor allem Fluchtwillige angezogen. Die spektakulärste Fluchtgeschichte führte durch einen 19 Meter langen Tunnel.

Mit dem Fall der Mauer vor genau 18 Jahren ging für die beiden Exklaven Klein-Glienicke und Steinstücken eine Zeit der absurden Isolation zu Ende Bild: AP

Die Glienicker Brücke kennt jeder. Sie war der Ort des Agentenaustauschs zwischen Ost und West. Alleine am 12. Juni 1985, drei Monate nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow, wechselten 27 Spione die Seiten. Die Bilder gingen um die Welt.

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war für die Bewohner von Klein-Glienicke und Steinstücken nicht nur die Zeit der deutschen Teilung zu Ende, sondern auch eine Zeit der Absurditäten. Beide wohnten in einer Exklave, die auf dem Gebiet der jeweils anderen Seite lag: Klein-Glienicke im Westen, Steinstücken im Osten. Heute ist von dieser Absurdität, wie auch vom Rest der Mauer, nur noch wenig zu sehen.

Dafür wird am heutigen Tag wieder kräftig gefeiert. In der Gedenkstätte Bernauer Straße werden unter anderen Klaus Wowereit und Matthias Platzeck an das historische Ereignis erinnern. Bereits gestern präsentierte Kulturstaatssekretär André Schmitz Infostelen, die künftig den Verlauf der Berliner Mauer verdeutlichen sollen. TAZ

Wer aber kennt schon Klein-Glienicke? Jene Exklave Potsdams auf Zehlendorfer und damit Westberliner Gebiet? Das verwunschene Stadtviertel zwischen Böttcherberg und Bäkegraben, das nur aus fünf Straßen besteht und einzig über eine kleine Brücke mit dem Schlosspark Babelsberg verbunden ist? Wie die Glienicker Brücke war auch Klein-Glienicke eine Absurdität der deutschen Teilung.

Wie das Leben in einer DDR-Exklave im Westen aussah, hat Gisela Rüdiger in einer Ausstellung zusammengetragen. Für die Leiterin der Potsdamer Außenstelle der Birthler-Behörde war Klein-Glienicke vor allem ein Ort der Flucht. "Eine Familie hat von ihrem Keller einen Tunnel von 19 Meter Länge unter der Mauer hindurch gegraben", erzählt sie. Das war im Jahre 1973. Aufgrund des hohen Grundwasserspiegels galt das Grundstück der Familie im "Grenzsicherungsplan" als "nicht tunnelgefährdetes Gebiet". Es wurde deshalb nur sporadisch kontrolliert. Dass der Grundwasserspiegel in Hitzeperioden erheblich sinken konnte, hatten die Mitarbeiter der Staatssicherheit übersehen.

Besonders tragisch, so Gisela Rüdiger, sei der Fall einer Familie, die Besuch bekommen hatte, der dann ebenfalls in den Westen floh. "Die Familie musste Klein-Glienicke sofort verlassen." Dabei war es als Klein-Glienicker zu Mauerzeiten gar nicht so einfach, Besuch zu bekommen. "An der Brücke war ein Posten, der kontrollierte alles genau. Wer keinen Passierschein hatte, kam nicht rein", weiß Rüdiger. Vor allem für Schulkinder war das nicht einfach. Sie konnten ihre Klassenkameraden aus Babelsberg nicht einfach einladen.

Dass Klein-Glienicke zur Insel des Ostens im Westen geworden war, geht auf die Bildung von Groß-Berlin im Jahre 1920 zurück. Damals wurden nur die Schlösser und Kirchen im Forst zwischen Griebnitzsee und Havel zu Wannsee geschlagen, unter ihnen auch das Jagdschloss Glienicke. Der Ort Klein-Glienicke dagegen blieb bei Potsdam. Schon damals sprach Bernhard Beyer, von 1898 bis 1921 Schöffe und stellvertretender Amtsvorsteher in Wannsee, von "unhaltbaren Grenzführungen" zwischen Wannsee und Potsdam. Dass sowohl Klein-Glienicke als auch Steinstücken einmal zu Exklaven zweier durch eine Mauer voneinander getrennter Systeme werden würde, konnte er nicht ahnen.

Die Lage im Grenzgebiet war nach dem Mauerbau für viele, vor allem jüngere Familien, ein Grund wegzuziehen. Nach und nach verfiel Klein-Glienicke. Viele Häuser wurden abgerissen. Unter ihnen auch sechs der zehn "Schweizerhäuser", die der Architekt Ferdinand von Arnim zwischen 1863 und 1887 im alpenländischen Stil erbauen ließ. 1979 musste die Kapelle geschlossen werden.

Erst nach der Wende wurde Klein-Glienicke wieder das, was es vor der Teilung war - ein Idyll am Wasser. Bestes Beispiel dafür ist die Ausflugsgaststätte Bürgershof. Das 1873 an der Brücke nach Babelsberg gegründete Lokal zählte um 1900 zu den größten in ganz Europa. An den Wochenende sollen dort bis zu 100 Kellner gearbeitet haben.

Nach dem Bau der Mauer wurde es geschlossen, weil es im Grenzgebiet lag. "1971 hat der VEB Autobahn-Kombinat dann sogar das Restaurantgebäude gesprengt, um freie Schussbahn für die DDR-Grenztruppen zu schaffen", hat vor kurzem die Welt am Sonntag in Erfahrung gebracht. Die Begründung: "Vom Ufer aus, direkt an der Zufahrt zum Griebnitzsee gelegen, konnten Flüchtlinge leicht auf einen vorbeischippernden Havelkahn springen, um so via Teltowkanal nach West-Berlin zu gelangen."

Seit drei Jahren ist der Bürgershof wieder geöffnet. Nun feiern sie wieder in friedlicher Eintracht, die Westberliner und die Potsdamer. Das Einzige, was an die Zeit des Mauer- und Exklavendaseins von Klein-Glienicke erinnert, ist ein Laternenmast der Grenztruppen. Er steht mitten im Garten des Bürgershofs.

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