Krisenjugend in Europa: Keine neue Heimat für Marta

In der EU herrscht Freizügigkeit. Doch seit Januar gelten schärfere Regelungen. Wer Beihilfen beantragt, riskiert sein Aufenthaltsrecht. Martas Geschichte.

drei mitteljunge Menschen mit Kaffeetassen, dahinter Café-Betrieb

Das Café Colectivo in Berlin-Friedrichsdhain, das eine Zeit lang Treffpunkt für junge Spanierinnen und Spanier in Berlin war. Foto: Miguel Lopez

BERLIN taz | Die europäische Marta Álvaro* hat um halb fünf Feierabend. Berlin, ein besserer Stadtteil, ein Sommernachmittag. Die Kita befindet sich in einem alten Backsteinbau, die Eltern: jung, urban, gut verdienend. Väter mit Tattoos und Hipster-Frisuren holen die Kinder ab, manche zu Fuß, manche mit dem Fixie-Fahrrad, einer schnallt seinen Sohn auf der Rückbank eines schwarzen SUV mit getönten Scheiben fest. Álvaro, 36, das braune Haar zum Zopf gebunden, die nackten Füße in Sandalen, die Nägel blau lackiert, geht zur Tür hinaus. Niemand nickt ihr zu, es ist erst ihr dritter Tag hier.

Sie läuft die Straße hinab, holt ein Päckchen Tabak heraus und beginnt zu drehen. Die Hitze steht zwischen den Hauswänden, es sei, findet Álvaro, „nicht auszuhalten ohne Strand“, wie es ihn in der Stadt an der spanischen Levante gibt, woher sie stammt. Drei Jahre wird sie nun mit diesen Kindern verbringen, immer drei Tage am Stück, dann zwei Tage Fachschule. 1.000 Euro brutto, 800 netto, so viel hat sie in Deutschland noch nie verdient. Am Ende wird sie ausgebildete Erzieherin sein. „Mit Kindern arbeiten fand ich schon immer gut“, sagt sie und bläst den Rauch aus. Nein, sie freut sich auf die Arbeit, sie ist nicht nur eine Notlösung, kein bloßes Mittel zum Zweck.

Der spanischen Marta Álvaro hat die Berliner Ausländerbehörde einen Brief geschrieben. Er kam am 17. April. Álvaro hat ihn morgens aus dem Briefkasten geholt, den Absender kannte sie nicht, und den Umschlag in der U-Bahn aufgemacht. „Ich beabsichtige, die Feststellung zu treffen, dass Sie Ihr Recht auf Freizügigkeit in der BRD verloren haben“, stand darin. Álvaros Deutsch war gut genug, um zu verstehen, was sie da las. „Mein erster Impuls war Wut, sagt sie. War sie keine Europäerin? Dann dachte sie ans Zurückgehen. Wenn man sie hier nicht wolle, dann wolle sie auch nicht mehr hier sein.

Aber was täte sie in Spanien? Was geschähe, wenn Álvaro in Deutschland bliebe? Wäre sie illegal? Käme sie gar ins Gefängnis? Würden sie sie abschieben? Wie sollte das gehen, in einem Kontinent der offenen Grenzen?

Drei Wochen Frist

Drei Wochen Zeit gab ihr der Sachbearbeiter der Ausländerbehörde, um „Tatsachen vorzutragen, die den von mir beabsichtigten Maßnahmen entgegenstehen könnten“. Drei Wochen, um zu belegen, dass sie es verdient hat, in Deutschland zu bleiben. Dass sie doch eine Europäerin ist, mit allen Rechten, und nicht nur eine Spanierin ohne Geld.

Der eine Satz, der ist geblieben: „Wer betrügt, der fliegt.“ Er steht in einer Beschlussvorlage der CSU vom Januar 2014. Es war der Monat, in dem alle Rumänen und Bulgaren das Recht bekamen, nach Deutschland zu kommen. „Der fortgesetzte Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutszuwanderung gefährdet die Akzeptanz der Freizügigkeit bei den Bürgern“, schrieb die CSU damals. Sie sprach von Migranten, die das Sozialamt täuschen würden, tatsächlich meinte sie aber auch die, die ganz legal Leistungen beziehen. Es war der Auftakt zu ihrem Europawahlkampf im Mai 2014.

Die Mär vom Sozialtourismus

Und es war Populismus. Ein massenhafter Missbrauch von Sozialleistungen sei „schlicht und ergreifend durch keine Auswertung und durch keine Zahlen belegbar“, sagt dazu der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt. Der Anteil der Sozialleistungsempfänger aus diesen Ländern liege niedriger als der anderer Zuwanderergruppen. „Das scheint mir keine Armutszuwanderung zu sein“, sagte Schmidt. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in ihrer Studie „Die Mär vom Sozialtourismus“ darauf hingewiesen, dass etwa Rumänen in Deutschland seltener Sozialleistungen beziehen als Deutsche.

Nichts hat der EU eine solche Legitimität verschafft wie die Freizügigkeit. Sich überall in Europa niederlassen zu dürfen ist der Kern der europäischen Einigung. Wer dieses Recht von Bedingungen abhängig macht und es befristet, verstümmelt ein europäisches Erfolgsprojekt zu einem besseren Touristenvisum. Doch im Kampf gegen den vermeintlichen Missbrauch von Sozialleistungen kannte die CSU kein Halten: Sie wollte nicht bloß jene bestrafen, die das Sozialamt anlügen, sondern auch jene, die keinen Job finden und deshalb womöglich Geld kosten.

„Nur wer Einkommen hat, ist Europäer“, sagt Marta Álvaro

Bis 2006 hatte Álvaro in Spanien Kunstgeschichte und Kulturmanagement studiert, doch der Kulturbetrieb in ihrem Land muss sparen. Irgendwann fing sie im Büro einer Grundstücksverwaltungsgesellschaft an. Ein festes Einkommen, doch nach einigen Jahren geriet die Firma in Schwierigkeiten. Im März 2013 verlor Álvaro ihren Job. Einen Sommer lang dachte sie darüber nach, was sie nun tun könne. Sie lernte ein Ehepaar aus Deutschland kennen, es bot ihr einen Platz in seiner Wohnung in Berlin an. Die Immobilienbranche in Spanien mochte in der Krise sein, der Tourismus in ihrer Gegend aber blüht. Álvaro entscheidet sich, Deutsch zu lernen. Im Oktober fährt sie nach Berlin und meldet sich in einer Sprachschule an. In den Jahren bei der Immobilienfirma hat sie Geld gespart; die Kursgebühren von 260 Euro im Monat, die Miete, ihren Lebensunterhalt bestreitet sie selbst.

Neue Regelung seit Januar 2015

Im November letzten Jahres änderte die deutsche Regierung das „Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern“, im Januar trat die neue Regelung in Kraft. Schon vorher konnte ausgewiesen werden, wer seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann – nun auch, wer länger als sechs Monate einen Job sucht.

Beim Förderverein Roma in Frankfurt häufen sich heute die Ausweisungsfälle. „Die Lage hat sich verschlechtert“, sagt die Sozialarbeiterin Gaby Hanka. Früher galt ein Minijob als ausreichend für den Lebensunterhalt, die aufstockenden Leistungen zahlte das Sozialamt. Jetzt weise die Ausländerbehörde Ausländer schon aus, weil sie Aufstockungsleistungen beantragen – erst recht jene, die keine Arbeit mehr haben. „Dabei sind das alles Leute, die Jobs suchen“, sagt Hanka.

Nachdem kürzlich ein 62-jähriger Bulgare seine Stelle verloren hatte, beantragte er Sozialleistungen. Die Ausländerbehörde Frankfurt entzog ihm zum 14. Juni das Recht, in Deutschland zu sein. Dass er in der Zwischenzeit wieder einen Job in einem Restaurant gefunden hatte, interessierte die Abteilung „Vollzug“ der Ausländerbehörde nicht mehr. „Mit der Arbeitsaufnahme wird die Verfügung nicht gegenstandslos“, schrieb sie. P. müsse Deutschland verlassen, arbeiten dürfe er nicht mehr, weil er „keine Freizügigkeit genießt“.

Die Fälle häufen sich

In München verschickte das Kreisverwaltungsreferat, Hauptabteilung II, Ausländerangelegenheiten Briefe an eine bulgarische Familie, weil sie Sozialleistungen bekam. Da die Familie noch keine fünf Jahre in Deutschland lebe, sei der Bezug von Sozialleistungen „schädlich für ihren Aufenthalt“. Sie sollten Deutschland verlassen. Bei der Caritas-Beratungsstelle in der Landwehrstraße häufen sich solche Fälle. „Die meisten sind verzweifelt und verstehen nicht, wieso das gerade ihnen passiert“, sagt die Sozialarbeiterin Ramona Sisu. „Sie machen alles, was sie können, um schnell eine Arbeit zu finden, egal was für eine, um in Deutschland weiter bleiben zu dürfen.“

Die CSU wollte ein Gesetz, um den Zuzug von armen Menschen vom Balkan zu verhindern. Geschaffen hat sie ein neues Recht, das auch auf Spanier, Griechen und Italiener anwendbar ist.

Das Leben mit der Gefahr, von Amts wegen aus Deutschland entfernt zu werden, sei eine „ziemlich schwarze Zeit“, sagt Álvaro. Nach einer Weile gehen ihre Ersparnisse zur Neige, sie arbeitet in Cafés, für 6 Euro die Stunde, Vollzeit, 900 Euro Monatslohn, 500 gehen für Miete drauf. Im Dezember legt sie ihre B1-Deutschprüfung ab.

Viele deutsche Freunde hat sie noch nicht gefunden, „aber bislang habe ich es auch noch nicht versucht. Mein Deutsch ist noch nicht gut genug.“ Trotzdem gefällt es Álvaro hier, sie will bleiben, als Kindergärtnerin arbeiten, erst mal, vielleicht klappt es ja irgendwann noch mit dem Kunstbetrieb. Doch die Ausbildung in der Kita machen darf sie nur, wenn sie vier Monate lang einen Vorbereitungskurs besucht.

Prekärer geht nicht

Álvaro unterschreibt den Vertrag, doch wenn sie zur Schule geht, kann sie nur noch wenig im Café arbeiten. Im März beantragte sie beim Sozialamt Charlottenburg Beihilfe für die Zeit bis zur Ausbildung im August. Nach drei Tagen kommt die Ablehnung. Sie sei noch keine fünf Jahre hier. „Bis heute habe ich keinen Euro bekommen“, sagt sie. 400 Euro verdient sie weiter im Café, nach der Schule. Ihre Mutter, Rentnerin, schickt ihr etwas Geld aus Spanien, prekärer geht es kaum. Dann kommt der Brief von der Ausländerbehörde. Er habe „die Information erhalten, dass Sie öffentliche Mittel beantragt haben“, schreibt der Sachbearbeiter. Álvaro habe „angegeben, dass Sie über kein Einkommen“ verfüge.

Sie kenne viele, die schwarz arbeiten oder Hartz IV kassieren, Spanier und Deutsche, sagt sie. Sie glaube, dass das „ein Problem für das Land sein kann. Aber ich habe das nie gemacht.“ Sie habe Beiträge gezahlt und wollte dafür die Hilfe, die ihr zustehe. Der Umgang der Behörde mit ihr sei „antieuropäisch“, findet sie. „Wer Einkommen hat, ist Europäer. Und wer keines hat, ist Spanier und muss wieder zurück. Dann können sie gleich wieder die Grenzen hochziehen.“ Das Gericht zahlte ihr einen Anwalt. Der schrieb einen Widerspruch, legte eine Kopie des Ausbildungs- und des Arbeitsvertrags bei. Eine Antwort hat sie bis heute nicht bekommen. „Ich weiß immer noch nicht, ob ich hierbleiben darf.“

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