Abhängigkeit von Cannabis: „Kiffen war mein Anker“

Mit 33 Jahren beginnt Alexander ein neues Leben ohne Drogen. „Mein Gehirn war wie ein gefrorenes Hühnchen“, sagt er über seine Sucht.

Jemand hält eine Zigarette, Rauch ist zu sehen

Abhängigkeit von Cannabis ist vor allem ein Problem von jungen männlichen Erwachsenen. Foto: reuters

BERLIN taz | Selten nur nimmt Alexander einen Zug, tief, verinnerlicht, konzentriert. Er sitzt ein bisschen vorgebeugt beim Rauchen, die linke Hand mit der Zigarette zur Seite gedreht, damit der Qualm nicht das Gespräch stört, die rechte auf dem Knie aufgestützt. „Ich erhoffe mir nichts mehr von Drogen“, sagt Alexander auf einer Bank in einem Park irgendwo in Berlin. „Die Zigaretten werden eines Tages auch von mir genommen.“

Alexander heißt anders. Früher rauchte er nicht nur Zigaretten. Und nun, mit 33 Jahren, beginnt er ein neues Leben. In diesem soll sein Leben als Drogenabhängiger unbekannt bleiben. Er ist stolz darauf, dass er es geschafft hat, wie er mit einem kleinen Lächeln zugibt. Er studiert nun Gesundheitsmanagement, arbeitet an drei Tagen die Woche in einem Krankenhaus, wohnt in seiner eigenen Wohnung und findet neue Freunde in einer Selbsthilfegruppe, zu der er dreimal in der Woche geht. Auch seine Freundin hat er dort kennengelernt. „Das Gehirn ist wie ein gefrorenes Hühnchen“, sagt er. „Wenn man nicht mehr konsumiert, taut man auf.“

Eineinhalb Jahre lang zweimal in der Woche ist er zum Psychologen Andreas Gantner in den Therapieladen gegangen. Eine Stunde Einzeltherapie, eine Stunde in der Gruppe mit anderen Cannabisabhängigen über das reden, was er 18 Jahre lang vernebelt hatte. Bis dahin betäubte Alexander den Schmerz seiner verwundeten Seele mit den Blüten des Marihuana-Strauchs und Alkohol. Mit 13 Jahren kifft Alexander das erste Mal, mit 15 raucht er regelmäßig Cannabis. Mit 18 trinkt er das erste Bier. Alkohol verabscheut er eigentlich, denn sein Vater trinkt. „Es mangelte mir an vielem“, sagt Alexander leise, wenn er von den Gründen spricht, weshalb er sein Leben früher den Drogen übergab.

Der Therapieladen in Berlin-Kreuzberg ist seit 30 Jahren spezialisiert auf die Konsumenten von Cannabis und Partydrogen wie Ecstacy oder Kokain. In den ersten Stock des Gründerzeithauses gehen nicht die Kiffer, die mal einen durchziehen und sich einen schönen Abend machen. Zu Andreas Gantner und seinen KollegInnen kommen die, die sich nach dem Aufwachen im Bett eine Bong reinknallen. Und dann liegen bleiben.

„Kiffer kommen nicht ins Handeln, vieles spielt sich in der Fantasie ab“, sagt Gantner, der seit 1989 Cannabisabhängige therapiert. Wenn das Leben nur im Kopf passiert, verheddern sich die Gedanken. Das Chaos steckt die Seele an. Oder waren die Gefühle schon vorher so verschreckt, dass sie die Angst in die Seele setzten?

Depressionen, ADHS, Borderline, Psychose zählt Psychologe Gantner die Krankheiten auf, mit denen seine Klienten kämpfen. „Cannabis kann kurzfristig alle möglichen psychischen Problemlagen lindern“, sagt Gantner. Das mache für viele die Droge so attraktiv. Doch Kiffen verursacht eben auch Probleme. „Cannabisharz ist ein klebriges Zeug, das psychische Problembereiche sehr gut bindet.“

Mit 26 Jahren kommen die meisten User in den Therapieladen, angefangen haben sie durchschnittlich mit 15. Kiffen gilt unter Jugendlichen als normale Erfahrung, Cannabis gibt es überall zu kaufen. „Quit the Shit“, raten Gantner und KollegInnen in einer Therapieform, wenn die Gedanken zu sehr um den nächsten Joint kreisen. Um das eigene Verhältnis zu Cannabis herauszufinden, können User den „Kiffertest“ machen, auch online. „Nicht die Probleme nehmen zu, wir nehmen sie nur besser wahr“, sagt Gantner, der sich seit einigen Jahren besonders um die 16-Jährigen bemüht. Meistens sind es die Jungs, die den Grat vom Spaß zur Sucht überschreiten. Mädchen oder junge Frauen sind selten in den Therapieeinrichtungen.

Oft fehlt eine Vaterfigur

Im Therapieladen Berlin sind knapp ein Viertel der Klienten weiblich. Die Erfahrung zeigt, dass jugendliche Suchtkiffer oft aus emotional durchgerüttelten Familien kommen, wenn denn überhaupt eine Familie existiert. Sehr oft fehlt eine Vaterfigur. Gantner lädt immer die Eltern seiner jugendlichen Klienten mit in die Therapie ein. Auch sie sollten ihr Verhalten ändern, um den Suchtdruck von ihrem Kind zu nehmen. Denn Cannabis ist für jugendliche Früheinsteiger, die oft und starkes Zeug rauchen, keinesfalls harmlos. Bei Jugendlichen kann Cannabis Psychosen auslösen. Der Risikofaktor für jugendliche intensive Cannabisnutzer an einer Psychose zu erkranken, liegt deutlich höher als im Durchschnitt der Bevölkerung. „Es ist eine kleine Gruppe“, sagt Gantner.

Da das bisherige Verbot von Cannabis nichts gebracht hat, setzen sich Gantner und sein Team für eine Cannabisregulierung für Erwachsene ein. Denn die Spaßkiffer sind nicht das Problem. Er wünscht sich mehr Ressourcen für Prävention und Therapie statt der Unterdrückung, um sich dann besser um die Problemkiffer kümmern zu können. „Wir müssen das Signal aufrechterhalten, dass Cannabis für 10 bis 15 Prozent der Konsumenten eine hochproblematische Droge ist.“

Seit fast zwei Jahren ist Alexander clean. Das alte Leben liegt vor dem kalten Entzug, es existiert in der Erinnerung, aber es beginnt sich anzufühlen wie ein anderes Leben. Und die Zeiten sind ja auch vorbei, als er morgens schon die Tüten für den Tag vorbereitet hat, vorher einen durchgezogen hatte, um den Kater der Nacht zu vertreiben. Fünf, sechs Bier hat Alexander jeden Tag getrunken, am Wochenende auch mal zwanzig, und wenn der Druck auf der Seele zu groß wurde, hat er sich einen Flachmann Wodka von der Tanke geholt.

Montags war es am schlimmsten, da steckte ihm das Wochenende in den Knochen, erzählt er mit klarem Blick und verzieht angewidert die Mundwinkel. Der Körper schrie nach Alkohol, rächte sich mit Schweißausbrüchen, Übelkeit, Magenschmerzen. Der Geist war unkonzentriert, die Laune beschissen. „Kiffen war immer“, sagt Alexander und wedelt mit den Händen zum Gesicht, als schaufle er sich irgendein Zeug rein. „Kiffen war mein Anker.“

„Ich war isoliert zum Schluss“

Das Gedächtnis der Zellen ist hartnäckig. Wie in einem Tunnel liegt die Zigarette in Alexanders Hand, locker auf dem Knie abgelegt. Früher ist er in den Wald gefahren, hat sich zugedröhnt. Immer allein. „Ich war isoliert zum Schluss“, sagt Alexander. Und irgendwann reichte es ihm.

In Berlin-Friedrichshain, U-Bahn-Station Samariterstraße, bringt Regine Tiggemann im Dachgeschoss des Drogentherapiezentrums Count Down Abhängige über die ersten zehn Tage ohne Droge. Salbeibonbons, Paracetamol und was gegen Schnupfen hat Tiggemann im Medizinschrank. Methadon oder andere Ersatzdrogen bekommen die nach Entgiftung Strebenden nicht. Akupunkturnadeln an den drei Entgiftungspunkten rund ums Ohr und auf der Fontanelle, kuschelige Decken und Entspannungsmusik helfen gegen Schüttelfrost, Angstzustände, Kribbeln in den Füßen. „Die kommen hier nicht von der Wolldecke in die Milchbrühe“, sagt Tiggemann, die ihren jugendlichen Klienten schon mal durch die Haare strubbelt oder sie mit schlankem Arm kurz drückt. „Sie sind dünnhäutig.“

Seit Jahren steigt der THC-Gehalt in den Urinproben, die Tiggemanns Klienten abgeben. „Das Gerät quietscht“, sagt sie und winkt mit der Hand ab. „Der Wert ist unmessbar hoch.“ THC ist der psychoaktive Stoff im Cannabis. Je mehr THC, desto mehr dröhnt der Joint. Aber auch die psychologischen Schwierigkeiten nehmen zu. Neue Sorten sorgen für den höheren THC-Gehalt in den Cannabis-Blüten. Zudem bieten mehr Händler Cannabis aus einem Gewächshaus im eigenen Heim an. Dort wachsen die Pflanzen unter 600-Watt-Birnen, die den THC-Gehalt steigen lassen.

Cannabis ist eine Alltagsdroge. Seit Jahren kommen mehr Konsumenten von THC als von anderen Drogen ins Count Down. Von elf Klienten sind es Mitte August neun. So wie die 25-jährige Lena (Name geändert), gerade die einzige Frau im Count Down. Vor drei Jahren hat sie begonnen, sich mit Speed und Ecstacy für Partys zu pushen und zum Abschalten zu kiffen. Beim Cannabis ist sie dann geblieben. „Ich bin da sehr naiv rangegangen“, sagt sie bewusst und mit festem Blick. „Ich habe mich betäubt“, fügt sie hinzu, ihr Blick bleibt klar, nur die Hände ringen und spielen mit einem Faden vom Ärmel. Ihr Exfreund habe gedealt und sie mit reingezogen, Lena schüttelt sich. Nach dem Entzug beginnt sie eine ambulante Therapie im Drogentherapiezentrum, dann kann sie weiter als Friseurin arbeiten und sich um ihre sechsjährige Tochter kümmern.

Endlich frei sein

„Ouarrrrrrrr“, grölt ein Junge im Kapuzenpulli von der gegenüberliegenden Seite der Balustrade, eine Art umlaufende Dachterrasse vor den Räumen des Count Down. Sechs junge Männer stehen rum, rauchen, wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen zwischen Akkupunktur und Gesprächsrunde. „Langeweile gehört dazu“, sagt Tiggemann, geht auf den Balkon und will wissen, wer da rumbrüllt. Aggressionen offenbar auch.

Sie hat gerade einen Kicker gekauft, doch die Viererkette in Gelb drückt sich schon durch ein Loch in der Seitenwand des Tischfußballgeräts. Auf der Jalousie vor dem Dachfenster hat jemand Tags mit Filzer gekrakelt. Jede Woche, erzählt Tiggemann, muss sie Spiele nachkaufen, Stühle austauschen, Jalousien reparieren, Klositze wechseln.

„Ich habe meinen Tiefpunkt gefunden und bin durchgegangen“, sagt Alexander auf der Bank im Park. Nach dem Gespräch wird er zu seiner Selbsthilfegruppe gehen, so wie zwei Tage zuvor und davor auch. Sucht ist eine Krankheit, die als unheilbar gilt. Jeder Rausch kann das alte Leben wieder anknipsen. Wenn er Suchtdruck hat, ruft Alexander deshalb einen Mentor aus der Gruppe an. „Ich bin froh, nicht mehr diesen Zwang zur Abhängigkeit zu haben“, sagt Alexander. „Ich frage mich, warum erst jetzt.“

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