Die Wahrheit: Der homosexuelle Mann …

… tritt seit ewigen Zeiten in den Angstträumen ungefestigter Heteros als der große Verführer auf. Er kriegt sie alle rum.

… ist ein großer Verführer. Wie er es genau macht, weiß man nicht, aber er kriegt sie alle rum. Vielleicht reicht schon eine einfache Berührung und – schwupp! – ist man verzaubert. Ich hatte mal einen Kollegen, der sich standhaft weigerte, in Konferenzen an meiner Seite zu sitzen. Begründung: keine. Die Furcht stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Aber vielleicht braucht’s auch mehr als nur die kurze Berührung, Schwule haben ihre Tricks, gemeine Fallen, oft erprobte Kunststückchen. Sie nähern sich ihrem Opfer ganz zwanglos in geschulter Hetero-Optik, und in einem unbedachten Moment langen sie zu – zwischen die Beine oder an den Arsch. Die Fantasien ungefestigter Heteros sprühen nur so vor Angstlust.

Die Figur des Verführers hat eine ganz lange Tradition und ist unverzichtbarer Bestandteil der Gegenpropaganda. In Stuttgart ist unlängst bei der Demonstration gegen die „Ehe für alle“ ein junger Mann aufgetreten, der sich den Teilnehmern als schwul vorstellte, seine Homosexualität aber nicht auslebe. Schwul sei er geworden durch – was sonst? – Verführung, aber jetzt sei er damit durch, „aus Gründen eigener Einsicht“. Die Demonstranten dankten ihm mit viel Applaus. Und eine andere, Mitglied bei den „Christen in der AfD“, warnte vor Sexualaufklärung in der Schule, vor allem wenn es um Homosexuelles ginge, das sei „Manipulation“ der Kinder.

Auch in der Debatte um eine Reform des Anti-Homo-Paragrafen 175 in den siebziger Jahren gehörte die Verführungsthese unbedingt zum Repertoire öffentlicher Reden. Mit der zweiten Reform 1973 bestand der Gesetzgeber auf einer Schutzaltersgrenze für junge Männer von 18 Jahren. Warum nicht schon bei 16 Jahren, wie in vielen anderen europäischen Ländern damals üblich? Weil „die Festlegung bis zum 18. Jahr erfolgt und nicht mit Sicherheit anzunehmen ist, dass sie bis zum 16. Jahr abgeschlossen ist“, sagte im März 1974 der SPD-Abgeordnete Hans de With bei einer Umfrage des Schwulenmagazins Du & Ich. Im gleichen Heft sekundierte ihm Adolf Müller-Emmert, ebenfalls SPD. Es sei nicht auszuschließen, „dass Minderjährige bis zu achtzehn Jahren durch homosexuelle Kontakte in ihrer Gesamt­entwicklung beeinträchtigt werden können“.

Eine besonders große Rolle spielte die Idee von der Verführung unter den Jungmännern der Bundeswehr. Deshalb blieben trotz der Paragrafenreform Schwule weiterhin vom Wehrdienst ausgeschlossen, schließlich könnten die „jungen Wehrpflichtigen“ – so der damalige Verteidigungsminister Georg Leber (SPD) – „Belästigungen“ und „Machenschaften“ durch „längerdienende Soldaten“ ausgesetzt sein. Die „gemeinsame Wohnung der Soldaten“ stelle „erhöhte Anforderungen an die Kameradschaftspflicht“, deshalb müsste die „soldatische Gemeinschaft vor Gefährdungen von homophil veranlagten Bewerbern“ geschützt werden.

Die Verführerlüge ist unkaputtbar und zeitlos schön. Es ist beruhigend zu sehen, dass nicht alles neuesten Trends folgt, dass Traditionelles seinen Spuk behält.

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kari

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