Gekocht durch Phosphor und Löschwasser

70 JAHRE KRIEGSENDE Der Bremerhavener Regisseur Jens-Erwin Siemssen inszeniert am Originalschauplatz den Schrecken des Bombenkrieges. Dafür hat er 15 Zeitzeugen nach ihren Erlebnissen befragt und aus dem Material berührende Spielszenen gebaut

Foto: Metallschrott als Ansprechpartner im Arm: Schauspielerin im „T750 Mannschaftsbunker“ von 1943 Fotos (2): Martin Becker/Landesbühnen Nord

von Jens Fischer

„Dass das nach 70 Jahren noch so wehtut, dass meine Gesprächspartner weinen mussten“, hat den Bremerhavener Theatermacher Jens-Erwin Siemssen am stärksten überrascht. Dabei wusste er, was auf ihn zukommt. Selbst Jahrgang 1964, bezeichnet er sich „noch der Kriegsgeneration zugehörig“. Er erzählt, wie seine Eltern am Familientisch über eine „perverse, verrohte Zeit“ sprachen: von ohnmächtiger Panik bei Luftangriffen, todesängstlicher Verzweiflung in engen Luftschutzeinrichtungen, von Verwandten, die in ihren Kellern starben, und aufgereihten Leichen, straßenlang: „Starker Tobak.“

Jetzt reagiert Siemssen künstlerisch darauf. Schließlich ist es inzwischen opportun, auch als Mensch aus Täter-Deutschland vom Horror des Kriegs zu berichten, den die Alliierten unter der Zivilbevölkerung inszenierten. Bevor also die letzten Überlebenden des Zweiten Weltkriegs aussterben, sollen sie ihr scham- und schuldbeladenes Schweigen brechen, um die Geschichte wach zu halten.

Dutzende Zeitzeugen haben sich bei Siemssen gemeldet, 15 hat er schließlich in Emden und Wilhelmshaven ausführlich interviewt und das Material zu kleinen Spiel- und vier großen Monologszenen kompiliert. Die Erinnerungen an über 100 Luftwaffenangriffe werden als „begehbares Dokumentartheater“ präsentiert. Die Perspektive der Gesprächspartner wird beibehalten, so dass Schauspieler Erwachsene spielen, die sich nach 70 Jahren an die Bombennächte im Bunker erinnern.

Das ergibt Momentaufnahmen, gefiltert durch den zeitlichen Abstand, aber noch emotional durchglüht, da nie verarbeitet. In Kooperation mit der Landesbühne Nord inszeniert Siemssens Künstlergruppe „Das letzte Kleinod“ in einem Truppenmannschaftsbunker der 1943er-Baureihe T 750. Noch unverrückbar ruht er auf dem ehemaligen Kasernengelände an Wilhelmshavens Banter See.

Von einst über 200 Bunkern stehen heutzutage noch 167 in der zum deutschnationalen Kriegführen erbauten Jadestadt. Neben Emden ist sie wohl der einzige Ort Norddeutschlands, der für fast jeden Bürger und alle anwesenden Soldaten der Kriegsmarine einen Luftschutzbunkerplatz bereitstellte. Deswegen kamen durch den Bombenhagel „‚nur‘ rund 550 Menschen ums Leben“, wie Wilhelmshavens Stadtarchiv­leiter notierte. 1945 lagen zwei Drittel des Stadtgebiets in Trümmern.

Jetzt schallt wieder „Fliegeralarm“ durch die Nacht. Der mit seinen rohen Oberflächen sonst recht abweisend wirkende T-750-Klotz ist zur Theaterpremiere festlich illuminiert. Er befeuert bei den Zuschauern eine aktuelle Grundsatzdebatte. Die einen halten Bunker für überflüssige Schandflecke, für andere sind sie Symbole der militärischen Stadtgeschichte und schützenswerte Architektur, die Leben gerettet hat.

Ein Militaria-Sammler und Bunker-Fan habe bereits ein privates Bunkermuseum in Wilhelmshaven eröffnet, erzählt der städtische Kulturbeauftragte Jens Graul. Und Stadtrundgänge zu den Beton-Denkmälern? „Die gibt es auch bei uns, natürlich“, sagt Bürgermeister Andreas Wagner (CDU). Aber wenn die Bunker der Entwicklung Wilhelmshavens im Wege stünden, müssten sie weichen.

Von September 2014 bis Februar 2015 dauerte es, bis der Zwilling des jetzt theatral genutzten Bunkers für einen Investor abgerissen wurde. Dass der bereits investiert, kann nicht bestätigt werden. Aber der Abriss ist bezahlt. „Hat so etwa 270.000 Euro gekostet“, sagt Wagner.

Und was passiert dann nach der „Fliegeralarm“-Bespielung mit dem anderen T 750, auf dessen Grundstück eine Schöner-Wohnen-Anlage geplant ist? „Abriss, kulturelle, gewerbliche oder Wohnraum-Nutzung – für dieses Objekt ist noch alles offen“, sagt Wagner. Es gehört der Stadt und wurde bereits für 100.000 Euro zum Verkauf angeboten.

„Aber es ist etwas ganz Besonderes, nämlich der letzte intakte von deutschlandweit einst 38 T-750-Bunkern“, sagt der Vorsitzende des Vereins zum Bunkererhalt, Holger Raddatz. Das ist auch ein Grund für ihn, das Mahnmal zu erhalten und als Ort der Erinnerung und Begegnung herzurichten – mit einer Bunker-historischen Dauerausstellung, die auch den am Bau beteiligten Zwangsarbeitern gedenken soll.

„Hauptsache, hier kommt keine Techno-Disco rein oder Paintball-Areas, die vermitteln ja, Krieg mache Spaß“, ergänzt Siemssen. Aber für ihn sei der Bunker sowieso ein „Unort“: „Meinetwegen kann der weg. Es ist ja auch unser Kleinod-Konzept, die Letzten zu sein, die einen Ort vor seiner Zerstörung nutzen.“ Nach Ihnen die Abrissbirne? „So in etwa“, sagt der Theatermann.

Also schnell noch einmal ins Objekt der Begierde. Hinter den zweieinhalb Meter dicken Mauern ist alles top aufgeräumt, nur dezent verdreckt und kaum mit Spinnweben geschmückt. Sauber weiß getünchte Wände sind verziert mit Kritzeleien britischer Soldaten. Mitglieder des Landesbühnen-Jugendclubs locken, führen und hetzen durch den Szenenreigen.

Anna Rausch spielt ein Mädchen, das ihren Teddy so sehr liebt, dass er immer mit in den Bunker muss, sie kuschelt herzig mit ihm – in Gestalt eines rostigen Rohres. Damit findet sie zu einem Kinderspiel, das immer lärmender, aggressiver, hilfloser wird – wobei die brodelnde, in sich widersprüchliche Gefühlswelt des Kindes aufgerissen und dann mit schützender Naivität wieder geschlossen wird: Ach, wie lustig die Bänke doch bei der Detonationskakophonie schaukeln … der Betonklotz funktioniert als Indoor-Spielplatz. „Ja, das wird alles gut und wir siegen doch“, ist dann so ein Satz, bei dem nicht das Mädchen, sondern die Fantasie der Zuschauer zusammenzuckt.

Aus Luftdurchlässen wehen unheimlich harmonisch Kinderlieder. Geschützfeuerkrach wird auf einen Spind getrommelt

In einem anderen Raum wird sachlich entsetzt von elendig verbrühten Menschen berichtet, die in den Kellern zerstörter Häuser saßen und durch das Gemisch aus Brandbombenphosphor und Löschwasser zum Kochen gebracht wurden.

Die Regie-Idee, jedem Darsteller ein Metallobjekt als An- und Mitspielpartner zu spendieren, funktioniert bestens in den leeren Zellen der Betonwabe. Jeder idyllisierenden Äußerung, zum Beispiel beim Puppenspiel mit Schrott, wird so jedweder Trost genommen.

Aus Luftdurchlässen wehen zudem unheimlich harmonische Kinderlieder. Eine von der Wand hängende Rohrinstallation wird zum Vibrieren gebracht, Geschützfeuerkrach auf einen Spind getrommelt, an Metallschächte geboxt, mit Autofelgen geworfen – das ist die bedrückende Klangkulisse in diesem hallstarken Szenario.

Da Siemssen die Figuren nie zu Charakteren entwickelt, Szenen eher Fantasie anregend karg, denn psychologisch anlegt und sie nicht auseinander herleitet, lediglich aneinanderreiht, wird weniger die ständig verbal behauptete „Angst“ spürbar ,als das ebenfalls betonte Gefühl, keine Zeit für Angst gehabt zu haben.

Die Atmosphäre der Aufführung betont das alltägliche Pendeln zwischen Zuhause und Bunker: stets bereitstehende Notkoffer und eine Hab-Acht-Haltung. Jeder muss jederzeit aufs Sirenensignal loslaufen können, mit letzter Kraft schnell rein in den Bunker. Wer zu spät kommt, steht vor dem Schriftzug: „Schott dicht“. Der prangt noch immer am Tor. Jetzt ist es geöffnet. Nach 60 Minuten heißt es recht unspektakulär: „Der Krieg ist vorbei.“

„Fliegeralarm“ ist bis 19. 11. in Wilhelmshavens Bunker T 750 an der Jadeallee und bis 25. 11. in Emdens Bunker am Stadtgarten, Katergang, zu sehen