Traumaforscherin über Flüchtlinge: „Das Trauma ist universal“

Warum tun sich viele Deutsche so schwer damit, Flüchtlinge freundlich zu empfangen? Das liegt auch an unserer eigenen Geschichte, sagt Sabine Bode.

Flüchtlinge im Schnee an der deutsch-österreichischen Grenze

Die Menschen, die heute auf der Flucht sind (hier an der deutsch-österreichischen Grenze), erleben die gleichen Traumata, wie die, die im Zweiten Weltkrieg flüchteten Foto: dpa

taz: Frau Bode, warum tun sich viele Deutsche so schwer, Flüchtlinge mit offenen Armen zu empfangen?

Sabine Bode: Das hat mit unserer eigenen Geschichte zu tun. Mit den Erfahrungen deutscher Familien im Zweiten Weltkrieg und einem Phänomen, das man schuldhafte Verstrickung nennt. Alle Zeiten von Gewalt bringen es mit sich, dass sich die Menschen mehr als in normalen Zeiten schuldig machen.

Inwiefern?

Nehmen wir das aktuelle Beispiel Syrien: Da hat sich vielleicht jemand auf Kosten seines Bruders durchgesetzt, um auf die Flucht zu gehen. Oder vielleicht hat man jemanden bestohlen, um sich die Flucht leisten zu können. Oder man war in Kriegshandlungen oder Kriegsverbrechen verwickelt. Wenn man sich dieser Schuld nicht stellt, führt das oft dazu, dass man die ganze Zeit, in der das alles geschehen ist, abwehrt und nicht daran erinnert werden will.

Was hat das mit den Deutschen zu tun?

Genau das war bei vielen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall. Auch damals wurden viele Millionen Menschen vertrieben. Vielleicht hat man in der Familie ausführlich über Flucht und Vertreibung gesprochen, aber nicht darüber, was der Opa in Russland getan hat oder wovon er Zeuge war. Ich glaube, dass gerade ältere Menschen in Deutschland die Flüchtlinge deshalb nicht mit offenen Armen willkommen heißen, weil sie nicht wollen, dass die Themen Krieg und Flucht noch einmal in ihrem Leben auftauchen. Gucken Sie sich doch mal die Pegida-Bewegung an.

Jahrgang 1947, Journalistin und Buchautorin, u. a. von „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ (2004 und „Nachkriegskinder“ (2011). Mittlerweile hält sie Seminare zu Kriegstraumata und deren Folgen für nachkommende Generationen.

Sie sagen, Pegidisten seien die Spätfolgen nicht aufgearbeiteter Kriegstraumata?

Ich denke, schon. Diese Menschen wollen keine Veränderung. Und was gerade in Deutschland läuft, treibt sie fast in den Wahnsinn. Das ist ein tolles Beispiel für vagabundierende Ängste, also unbestimmte Ängste, die man nicht zuordnen kann. Da greift man sich dann irgendetwas heraus. Bei Pegida sind es die Islamisten, die in deren Rhetorik zu Millionen durch Sachsen stiefeln. Soweit ich weiß, ist der Anteil an ehemaligen Heimatvertriebenen im Zweiten Weltkrieg in Dresden und Umgebung sehr hoch.

Sind die Deutschen eine traumatisierte Nation?

In Teilen. Man geht davon aus, dass etwa ein Drittel der Menschen, die im Zweiten Weltkrieg Kinder waren, Traumata, die sie damals erlitten haben, nie verarbeitet haben. Die Folgen dieser Traumata setzten sich in den Folgegenerationen fort. Wie stark vagabundierende Ängste noch heute in der deutschen Bevölkerung wirksam sind, zeigt sich auch darin, mit wie viel Besonnenheit oder wie viel Panik und Ressentiments heute über die Pariser Attentäter und aktuelle Terrorismusdrohungen umgegangen wird. Mein Eindruck ist, dass in den sozialen Netzwerken zurzeit Angst, Angst, Angst dominiert, während die Medien doch weitgehend gelassen reagieren.

Wie machen sich die Traumata bemerkbar?

Für die Kriegskinder, also diejenigen, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden, kann das lebenslange Folgen haben. Ich pauschalisiere jetzt bewusst. Aber die drei wichtigsten Auswirkungen sind ein sehr starkes materielles Sicherheitsbedürfnis der Kriegskindergeneration, also der heutigen Rentnergeneration. Zweitens ein stark ausgeprägtes Schwarzweißdenken. Und drittens eine doch beachtliche Stressanfälligkeit.

Am schwersten auszuhalten ist es für diese Generation, wenn sich die Lebensumstände ändern. Zum Beispiel durch Krankheit oder den Tod des Lebenspartners oder durch plötzliche Verarmung. Aber zum Beispiel auch durch die Wende in der DDR. Der Halt, der für diese Menschen so existenziell wichtig ist, geht verloren. Die Menschen in Dresden sind unter Umständen also zweimal belastet: erst durch nicht verarbeitete Traumata, dann durch die Wende. Und nun arbeiten sie sich an den vermeintlichen Islamisten ab.

Sie sprechen davon, dass nicht verarbeitete Traumata innerhalb der Familie weitergegeben werden. Wie funktioniert das?

Das ist reine Biologie. Babys nehmen alles, was um sie herum geschieht, auf wie ein Schwamm. Sie spüren, wenn die Mutter nicht stabil ist. Gleichzeitig rührt ein Säugling das Hilfloseste in einem selbst an, einfach weil er selbst so hilflos ist. Eine Mutter, die sich nicht von ihrem Kindheitstrauma erholt hat, hält diese Hilflosigkeit nicht aus und geht emotional auf Distanz. Das ist für ein Baby eine ganz furchtbare Erfahrung. Sie löst Todesängste aus. Das Kind lernt sehr früh, dass es, um versorgt zu sein, dafür sorgen muss, dass die Mutter glücklich und stabil ist.

In der Psychologie spricht man von Parentifizierung. Die Kinder fühlen sich zuständig für das Wohl der Eltern und nicht umgekehrt. Das kann ein Leben lang anhalten. So kommt es, dass heute viele Kriegsenkel, also Menschen, die in den 50er, 60er und 70er Jahren geboren sind, in der Mitte des Lebens sich noch sehr stark von den Eltern bestimmen lassen.

Wodurch werden Traumata eigentlich ausgelöst?

In Kriegssituationen ist das oft der Verlust der vertrauten Umgebung. Oder die Strapazen der Flucht, also Hunger und Kälte, aber auch verstörte Erwachsene. Viele Kriegskinder haben im Krieg erlebt, dass die Mütter oder die Großmütter vergewaltigt wurden. Auch Vergewaltigungen von Kindern gab es.

Warum ist der Verlust der Umgebung so schlimm? Kann das nicht auch etwas Hoffnungsvolles sein?

Das kommt auf das Alter an. Mit 20 kann es spannend sein, die vertraute Umgebung zu verlassen. Aber wer nicht grundsätzlich in Aufbruchsstimmung ist, verliert das, was sein Leben stabil macht.

Was Sie beschreiben, machen gerade viele Flüchtlinge durch, die zu uns kommen. Sind Ihre Analysen übertragbar?

Ja natürlich. Trauma ist Trauma. Das ist universal. Die Folgen sind überall dieselben. Meine Bücher wurden deshalb auch ins Chinesische und ins Kroatische übersetzt. In Kroatien geht es um die Folgen die Balkankriege. Und in China beginnt man langsam die Kulturrevolution aufzuarbeiten.

Werden die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern ihre Erfahrungen von Krieg und Flucht auch verdrängen?

Das kommt darauf an. Vor 70 Jahren gab es noch kein Wissen über Trauma und wie man damit umgeht. Zwar gab es Menschen, die sich intuitiv richtig verhalten haben und verstanden haben, traumatisierte Menschen zu beruhigen. Aber es gab kein Behandlungswissen. Das ist heute anders. Daher rührt auch der Gedanke, Flüchtlingskinder sofort in die Schule zu schicken.

Was muss man tun?

Die Kinder müssen eine Chance bekommen, das Erlebte auszudrücken, und sie müssen dabei verstehen, dass der Krieg vorbei ist. Das kann durchs Malen geschehen oder durch einen Schulaufsatz. So kommt man an die Verlusterfahrungen heran. Und so können Kinder das betrauern, was ihnen wichtig war und was sie verloren haben. Syrische Kinder hatten ja auch Freunde in ihrer Heimat oder vielleicht ein tolles Rennrad, und Oma und Opa sind vielleicht noch da. Das verlangt nur, dass man in der Lage ist, sich einzufühlen in das, was Menschen guttun könnte, die geflüchtet sind.

Es gibt ja nicht nur Pegida. Vielen Menschen in Deutschland gelingt es sehr gut, den Flüchtlingen mit Hilfsbereitschaft zu begegnen. Wie passt das ins Bild?

Da hat sich tatsächlich kulturell etwas verändert. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das vor zwanzig Jahren mit den Balkanflüchtlingen war. Da gab es keine so starke Bürgerbewegung. Die Hilfe ging damals vor allem von Institutionen, Kirchen und deren Mitarbeitern und Ehrenamtlichen aus. Und sie war in erster Linie von einem Gefühl der moralischen Verpflichtung bestimmt. Heute handeln die Menschen mit Empathie.

Was ist anders?

Mitgefühl für andere setzt voraus, dass man sich selbst (gegenüber) mit Mitgefühl begegnet. Das geht nicht umgekehrt. Wenn man sich selbst gegenüber hart ist, denkt man eher: Ich hab es durchgestanden. Sollen die anderen sich mal nicht so anstellen. In dem Maße aber, in dem die Kriegsenkel ihre Geschichte aufarbeiten und das Gespräch in den Familien ankurbeln, in diesem Maße befreien sich Menschen von unerklärlichen Ängsten, in diesem Maße wächst auch die Empathiefähigkeit.

Eine kulturelle Veränderung muss ja nicht von der Mehrheit ausgelöst werden. Da genügt eine Minderheit von 10 bis 15 Prozent. Das haben wir bei der Umweltbewegung gesehen. Klar ist auch: Die Empathie für Fremde setzt voraus, dass man selbst ein gutes und unbedrohtes Leben führt.

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