Protokoll Flucht nach dem 2. Weltkrieg: Die Flucht, eine Reise

Die große Puppe, die Tiefflieger und das gelbe Bonbon. Die Mutter unseres Autors erinnert sich an ihre Flucht im Krieg. War das nicht ähnlich wie heute?

Alte Familienfotos

Familienfotos, die die Großmutter des Autors bei ihrer Flucht zusammen mit ein paar Töpfen in den Kinderwagen packte. Foto: privat

„Meine Puppe Erika, die war so groß.“ Meine Mutter hält die Hand in Höhe ihrer Schulter. „Also vielleicht war die auch gar nicht so groß.“ Sie muss lachen. „Die hatte blonde Haare und Zöpfe, blaue Augen natürlich, das hatten die Puppen damals. Die verschwand immer kurz vor Weihnachten. Omama sagte, das Christkind hat die abgeholt. Und an Heiligabend saß sie in neuen Klamotten unter dem Weihnachtsbaum.“

Ma strahlt, vielleicht wie die Siebenjährige, die sie damals war. Im Frühjahr 1945. „Das war mir ein ziemlicher Schmerz, dass ich die Puppe dalassen musste. Ich seh sie da immer noch.“ Sie schluckt. „Uh, da muss ich jetzt noch wieder weinen.“

Es ist ein Sonntagmorgen, sie ist gerade 78 geworden, wir sitzen im Wohnzimmer und reden. Ein Gespräch, wie wir es noch nie geführt haben. Auch über die Flüchtlinge, die jetzt jeden Abend in den Nachrichten zu sehen sind. „Kommen dir da Erinnerungen an deine eigene Flucht“, habe ich gefragt. Sie hat nie viel davon erzählt. Ich wusste kaum mehr, als dass sie mit ihrer Mutter, meiner Omama, und ihrer ein paar Monate alten Schwester, meiner Tante Eva, per Zug von Eberswalde nach Westen geflohen ist. „Ja“, hat Ma gesagt und in ihrer Erinnerung gekramt.

„Was hat Omama gesagt, warum ihr gehen müsst“, frage ich. „Weiß ich nicht“, antwortet Ma, wie auf fast alle meine Fragen in der nächsten Stunde. Und legt gleich nach, wie ebenfalls bei fast allen Fragen. „Die Russen kommen. Ich weiß, dass ich das alles komisch fand. Aber ich hab das mehr oder weniger über mich ergehen lassen. Du machst dir da nicht viele Gedanken.“

„Wie seid ihr zum Bahnhof gekommen?“ „Zu Fuß. Mit zwei, drei Schichten Klamotten übereinander. Meinen Tornister hatte ich auf. Und dann immer am Kinderwagen anfassen, damit ich nicht verloren gehe. Da hatte ich schon ein Schild vor dem Bauch hängen.“ „Was stand da drauf?“ „Pffft, tja, ich denke, Mutti hat die Heimatadresse, das Geburtsdatum …, ansonsten war ja nichts möglich, weil sie auch nicht wusste, wohin, nur nach Westen.“

„Mutti immer heulend, ich neben dem Kinderwagen“

Was der Anlass ihrer Flucht war, kann Ma nicht sagen. Mitte April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, ist die Rote Armee von Osten über die Oder gekommen und an Eberswalde vorbei nach Berlin gezogen. „Mehrere Leute aus unserem Haus sind losgegangen. Mutti immer heulend und ich neben dem Kinderwagen. Und am Bahnhof haben wir gewartet, dass ein Zug Richtung Westen fährt, egal wohin. Da ging es hin und her. Mal hieß es, jetzt kannst du einsteigen und alle drängten dahin. Dann war aber doch nix und du musstest wieder zurücktreten. Dann fuhr der Zug woanders hin oder er fuhr überhaupt nicht.“ Sie macht eine kurze Pause.

„Einmal ist Omama da runtergefallen. Wir wollten einsteigen. Diese Güterwaggons, da kamen, wenn die Türen aufgehen, Treppen raus. Als ich vor Jahren im Eisenbahnmuseum war und diese Züge wieder gesehen hab, da wurde mir heiß und kalt. Omama schiebt mich vor, sie musste ja hampeln mit dem Kinderwagen, und weil es so wahnsinnig voll war, ist sie zwischen Zug und Bahnsteigkante gefallen. Alles drängelte rein, ich war drinnen und sie schrie, ich muss zu dem Kind, ich muss zu dem Kind! Dann haben sie die rausgeholt. Das war brenzlig. Aber als Kind vergisst du das. Sie war weg, aber dann wieder da“, sagt meine Mutter.

Ursula Asmuth über ihre Flucht

„Und am Bahnhof haben wir gewartet, dass ein Zug Richtung Westen fährt, egal wohin“

„Das war ein Verwundetentransport, vielleicht zwanzig Wagen. In einer Ecke waren zwei, drei Familien mit Kinderwagen. Die Frauen, die da mit ihren Kindern waren, haben die Soldaten versorgt, ihnen gut zugeredet und Adressen angenommen, um Verwandte zu benachrichtigen. Das muss furchtbar gewesen sein. Da lagen zehn, zwölf vermummte Soldaten, nicht still, die hatten Schmerzen, die kriegten ja keinen Arzt. Du hörtest dauernd dieses Gejammer, und die stanken; die waren mehr tot als lebendig. Die sind auch unterwegs gestorben. Immer beim Halt wurden die Toten rausgesammelt. Was sie damit gemacht haben, weiß ich nicht. Einer wurde rausgeholt, der lebte noch. Der hat ganz intensiv mit Omama gesprochen und ist, als er draußen war, gestorben. Wir hatten zumindest ein Dach überm Kopf. Die schlimmeren Transporte waren die mit den offenen Güterwagen.“

Weiße Tücher, tiefe Flieger

„Wie lange wart ihr unterwegs?“ „Keine Ahnung. Ein paar Tage oder eine Woche oder so. Einmal kamen Tiefflieger. Da wurde laut gebrüllt, hängt alle weiße Tücher raus, das sollte die Tiefflieger ablenken. Hat es aber nicht. Die haben den Zug beschossen. Und die Leute sind raus aus dem Zug auf ein großes Feld, und pisch, pisch, pisch, die wurden alle abgeknallt, wie man so auf der Kirmes schießt.“

„Und ihr? Seid ihr im Zug geblieben?“ „Ja. Mutti mit Kinderwagen und Säugling, was willst du da machen? Irgendwann kamen amerikanische Lastwagen. Die Leute aus dem Zug sind alle dahin, die Amerikaner haben uns Essen gegeben, Butterbrote und solche Sachen. Ich kriegte so ’n dickes Stück Brot“, sie zeigt mit ihren Fingern eine zentimeterdicke Scheibe an, „mit noch mal so dick Leberwurst oben drauf. Wir hatten vorher nichts zu essen gehabt oder nur ganz wenig, tagelang, und ich will da reinbeißen, aber da haut Omama mir das aus der Hand und sagt, ich darf die nicht essen, weil wir tagelang nichts gehabt hätten, und sie nicht weiß, was das ist. Damit ich nicht krank werde. Das konnte ich nicht verstehen. Wir haben eine neue Lokomotive gekriegt und sind weiter nach Schleswig-Holstein.“

Nachts sind wir freier - und ehrlicher. Deshalb widmet die taz.am wochenende ihre Weihnachtsausgabe vom 24./25./26./27. Dezember 2015 der Dunkelheit und erzählt gute Nachtgeschichten. Wir treffen Sebastian Schipper, der den Nachtfilm des Jahres gedreht hat und sich wie ein Staubsaugervertreter fühlt. Wir sitzen nachts in einem Callcenter auf den Philippinen, wo Anrufe aus den USA ankommen. Und: Unsere Autorin schreibt über die schlimmste Nacht ihres Lebens - die Geburt ihrer Tochter. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

„Nach Schleswig-Holstein?“ Ich dachte immer, die Reise sei nach Westen gegangen, nicht nach Norden. „Ja, oben zur Küste hin“, erzählt Ma. „Irgendwann war das zu Ende mit der Zugfahrt. Da wurden die umliegenden Bauernhöfe angewiesen, die Flüchtlinge aufzunehmen. Wir waren auf einem Riesenbauernhof, der hatte Kühe, die wurden alle aufs Feld getrieben, und wir kriegten pro Familie eine Box, die wurde wieder schön gemacht mit Heu, wo die Kühe vorher dringestanden haben.“

Jetzt sprudeln ihre Erinnerungen.

„Und weil Omama den Säugling hatte, kriegte sie später bei dem Bauern ein Zimmer, mit’nem großem Ehebett drin, wo sie mit mir schlief, und Eva im Kinderwagen. Die war ziemlich krank wohl. Omama meinte immer, Eva habe nur überlebt, weil sie sie ziemlich lange gestillt hat. Als wir noch im Güterwagen waren, sobald der irgendwo anhielt, stieg sie aus und guckte, ob irgendwo ein Bächlein floss oder so und hat da getrunken, egal was das war, damit die Milch nicht versiegt. Und dieser Bauer, der hat ihr ab und zu dann mal so’ne Kanne Milch gegeben, obwohl der ja auch dazu gezwungen worden war, die Flüchtlinge aufzunehmen. Der hieß Andresen.“

„Ein Abenteuer war das“

„Wie lange wart ihr bei ihm?“ „Zwei, drei Wochen, könnte ich mir vorstellen. Wir haben uns richtig eingerichtet in dem Zimmer“, sagt Ma. „Du hast mal gesagt, deine Flucht war für dich eher eine Reise“, erinnere ich mich. „Ja“, sagt sie, „ein Abenteuer war das. Es ist auch interessant, im Kuhstall zu übernachten. Vielleicht hab ich das sogar bedauert, dass wir da nicht mehr schlafen durften.“

Dann schlägt sie einen Bogen in die Gegenwart. „Es war wie bei den Flüchtlingskindern, die man heute im Fernsehen sieht. Wie fröhlich die eigentlich sind, ganz wenige Bilder hast du mal, wo ein Kind schreit und ängstlich guckt. Aber die meisten, die sehen nicht traurig aus. Die haben ihre Eltern um sich und das reicht dann auch.“

Erinnerungen, Fluchterlebnisse tauchen in Momenten auf bei meiner Mutter an diesem Sonntag. Omama, die im Bahnhof fällt, Nächte im Kuhstall. Stunden im Luftschutzkeller, noch zu Hause, in Eberswalde. „Da hatten wir auch einen Kellerraum, wo alle drinsaßen. Und da stand ein Kinderwagen, in den wurde ich reingesetzt, aber ich war nicht das einzige Kind, das da dringesessen hat. Eine Nacht klebte auf dem Rand ein Bonbon. Dieses dämliche gelbe Drops, das war mir so unangenehm. Ich kann mich noch erinnern, dass ich so gesessen habe“, sie lehnt sich mit verzogenem Gesicht weit zurück, „damit ich ja nicht an dieses olle …“ Sie stockt. „Solche blöden Erinnerungen. Das hat ja mit dem Krieg nichts zu tun. Das sind alles nur so Bruchstücke“, sagt sie und erzählt gleich von noch so einem.

„Wenn wir an Weihnachten in der Kirche sind, und am Ende geht die große Flügeltür. Dieser Moment ist immer ein bisschen belegt. Das kommt daher, wir waren einmal in Düsseldorf, wir hatten da, glaube ich, Verwandte. Wir waren da während eines Bombenangriffs und die hatten in der Nähe so einen richtigen Bunker, da mussten wir alle hin, das war ein ziemliches Gedränge an der Tür. Die wurde dann zugemacht, wirklich hermetisch abgeriegelt. Keine Luft und nix. Da saßen sie wie Heringe und du konntest die Erschütterungen merken und hören. In der Nähe war eine Porzellanfabrik. Die haben sie getroffen. Die hat furchtbar gescheppert. Als dieser Bombenangriff vorbei war, da tat sich die Frage auf, wenn wir jetzt rauskommen, ist mein Haus noch da? Dieser Moment, wo die diese Tür wieder aufmachen und die Leute gehen raus, Stinken, Flammen, kaputte Häuser, dieser Moment geht nicht weg. Den habe ich immer noch, wenn wir aus der Kirche kommen.“

„Das sind alles nur so Sachen, die mich …“, sagt meine Mutter wieder. „Da denke ich oft dran. Wenn ich mich in Muttis Lage versetze; hier, ich müsste jetzt, ich wüsste gar nicht, was ich mitnehmen würde. Wegzugehen aus dem, was man so hat, und nicht wissen, wohin … das machen die Flüchtlinge jetzt auch. Die nehmen ihren Ausweis mit, ein bisschen Geld, es ist eigentlich genau das Gleiche“, sagt Ma, „nur dass sie jetzt noch ein Smartphone haben“.

Und dann lacht sie.

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