Die Wahrheit: Herr im Winkel

Im Süden gibt es sie noch, die echten Eckensteher: Über eine im Rest der Welt weitgehend verschwundene Lebensform.

Eine Eckfahne und Füße im Fußballstadion

Auf den Fußballplätzen dieser Welt gibt es sie noch zuhauf, sonst nur noch im Süden – die Eckensteher. Foto: Reuters

Das Klima im Süden, an den Ufern des Mittelmeeres, das eher die Muße als die Arbeit begünstigt, bietet einer Spezies ideale Lebensbedingungen, die in Mitteleuropa ausgestorben ist, ja ausgerottet wurde, nämlich dem Eckensteher. Der oberflächliche Betrachter hält den Eckensteher meist für einen Drogenhändler oder einen Taschendieb.

Es mag auch sein, dass manche Verbrecher sich wirklich als Eckensteher tarnen. Der echte Eckensteher hat mit ihnen aber nichts zu tun. Ihm bleibt gar keine Zeit für Übeltaten, genauso wenig wie für irgendeine andere Beschäftigung. Er hat nämlich schon mehr als genug mit seiner eigentlichen Aufgabe zu tun: an der Ecke zu stehen.

Die Ecke, seine Ecke, ist ihm Arbeitsplatz. Die Eckensteherei ist ein ehrlicher, dabei rein männlicher Beruf, der über Generationen hinweg von den Vätern auf die Söhne vererbt wird. Das aufregendste Ereignis im Leben eines Jungen aus solcher Familie ist der Moment, da er von den Eltern zum ersten Mal an einer fremden Ecke allein stehen gelassen wird.

Der Eckensteher weiß, dass ihm seine Ecke nicht vom Zufall, sondern von Gott zugewiesen wurde. Er betreut seine Ecke gewissenhaft, kontrolliert mit aufmerksamem Blick alle Passanten und regelt außerdem ehrenamtlich den Verkehr. Er erteilt durch energische Gesten Vorfahrt, weist Automobilen Parkplätze zu und übernimmt in Streitfällen das Amt des Friedensrichters. Mit den Geschäftsleuten, die an der Ecke ihre Waren feilbieten, unterhält er sich ebenso wie mit den Menschen, die in den Häusern an der Ecke wohnen. Er spendet, wenn nötig, Trost und vermittelt ein Gefühl von Heimat.

Souverän an der Ecke

Fremde, verdächtige Personen werden vom Eckensteher misstrauisch beäugt, bei Fehlverhalten auch lautstark zur Ordnung gerufen. An seiner Ecke ist der Eckensteher absoluter Souverän und sorgt für Sicherheit. Als Lohn reicht ihm ein wenig freundliche Aufmerksamkeit, aber auch Kleingeld verschmäht er gegebenenfalls nicht.

Da der Eckensteher alle Nachbarn mindestens zweimal am Tag sieht, nämlich auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Heimweg, kann er ständig Wiedersehensfeste feiern. Gelegentlich wird so ein freudiges Ereignis auch in der Bar an der Ecke begossen. Besonders den weiblichen Fußgängerinnen schenkt der Eckensteher größte Aufmerksamkeit, selbst wenn diese von den Frauen nicht mit ebenso großer Begeisterung erwidert wird.

Der Eckensteher ist genügsam und glücklich auf seinem Posten in der Welt. Die Ecke ist nicht nur sein Arbeitsplatz, sie ist auch sein eigentliches Zuhause, selbst wenn er noch irgendwo eine ummauerte Wohnung besitzt. Wer will es dem Eckensteher verdenken, dass er sich in diesem seinem Wohnzimmer eher häuslich und leger kleidet? Vielleicht generell nicht übermäßig viel Mühe auf seine äußere Erscheinung verschwendet?

Geteilter Eckenplatz

Um die Ecke denken kann der Eckensteher nicht, noch viel weniger aber laufen. Um den Eckensteher von seinem angestammten Platz zu vertreiben, müsste man ihn schon um die Ecke bringen. Der Eckensteher selbst ist außerordentlich friedliebend. In manchen kleinen Städten des Südens gibt es nicht genug Ecken für die Vielzahl von Eckenstehern, dann teilen sich mehrere von ihnen gütlich eine. Eine starke Abneigung empfinden Eckensteher nur gegen Kreisverkehre, wo man sie deshalb auch nie sieht, stattdessen aber ihre ärgsten Konkurrenten, die Zirkelhocker.

In Deutschland gibt es keine Eckensteher mehr, sie wurden vor Jahren alle zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft umgeschult. Besteht nun in Zeiten der Völkerwanderung vielleicht Hoffnung, dass einige Eckensteher aus den Ländern des Südens zu uns kommen, um ihr traditionsreiches Handwerk im Norden wieder heimisch zu machen? Wie schön wäre das! Vorläufig aber sind unsere Ecken noch verwaist, unsere Kreuzungen öde, menschenfeindliche Brachen. Deshalb begegnen sich bei uns die Straßen nicht mehr, sie schneiden einander nur noch. Armes Deutschland!

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kari

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