Publizistin über Frauen im Islam: „Man muss auch zweifeln dürfen“

Welches innere Korsett trägt die Muslimin? Sineb El Masrar über dicke Frauen, Monobrauen und islamische Angstpädagogik.

Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen nebeneinander. Man sieht sie von hinten.

Ob Kopftuch oder nicht, sollte frei wählbar sein. Foto: dpa

taz: Frau El Masrar, „Emanzipation im Islam“ heißt Ihr Buch. Gibt es eine Emanzipation im Islam oder gibt es nur eine vom Islam?

Sineb El Masrar: Das hängt ganz von den Frauen ab. Für mich ist Emanzipation im Islam möglich. Ich bin bekennende Muslimin und ich habe in meiner Erziehung gelernt, dass Freiheit und die Selbstbestimmung einer Frau kein Hindernis für den Glauben sind.

Sind Sie die Ausnahme oder sind Sie die Regel?

Meine Eltern wären sicher auch nicht begeistert gewesen, wenn ich etwa mit einem nichtmuslimischen Freund nach Hause gekommen wäre, aber sie hätten es nicht verboten oder mich verstoßen. Und so geht es einer Menge junger Frauen. Manche müssen mehr gegen Traditionen kämpfen und manche weniger, aber die Situation eskaliert in der Regel nicht. Es gibt viele muslimische Frauen, die Mütter sind, berufstätig sind, und ihren Kindern ein ganz anderes Frauenbild vermitteln, und die tragen übrigens durchaus auch Kopftuch. Es gibt aber auch Frauen, die in bestimmten Gemeinden aufwachsen, etwa MilliGörüș,oder die aus dem Zentralrat der Muslime oder auch in der Muslimischen Jugend. Da wird ein Frauenbild vermittelt, das das alles nicht zulässt. Und das ist ein Problem. Wer dort dann andere als die erlaubten Bedürfnisse äußert, kann schnell zur Außenseiterin werden.

Wir sprechen heute über das innere Korsett. Was glauben Sie, tragen Sie als Muslimin ein anderes inneres Korsett als ich?

Das ist individuell verschieden. Ich verspüre zum Beispiel kein speziell islamisches Korsett. Natürlich gibt es universelle Korsetts, die sich leider auch in muslimischen Ländern durchsetzen. In Marokko haben die Frauen lange Zeit ihre Fülligkeit als Schönheit zur Schau gestellt, das hat sich in den letzten Jahren leider verändert. Heute eifern Frauen dem westlichen Schönheitsmodell nach. Ein anderes, typisch südländisches Korsett ist, dass Frau immer möglichst hell sein möchte. Selbst im Krämerladen werden diese Aufhellcremes verkauft. Oder im Iran, da galt eine Monobraue lange als Schönheitsideal.

Eine was?

Eine über der Nasenwurzel zusammengewachsene Augenbraue. Wenn man die nicht hatte, wurde die nachgemalt. Manches eigneten die Frauen sich auch wieder neu an, etwa bestimmte Arten, das Kopftuch zu tragen.

35, ist Hannoveranerin mit marokkanischen Wurzeln. Nach einer pädagogischen Ausbildung gründete sie 2006 die multikulturelle Frauenzeitschrift Gazelle und war Teilnehmerin der Islamkonferenz der Bundesregierung. Nach „Muslim Girls – wer wir sind, wie wir leben“ erschien nun ihr zweites Buch „Emanzipation im Islam. Eine Abrechnung mit ihren Feinden“.

Und was unterscheidet nun Ihr Korsett von dem der Musliminnen aus einer konservativen Gemeinde?

Sie tragen ein allumfassendes Korsett: Sie sollen nicht frei denken, nicht zweifeln, nicht tragen, was sie wollen. Alles, was sie tun, muss mit einer sehr rigiden Form von Islam zusammenpassen. Sie können ihre Entscheidungen auch nicht revidieren, sie können sich nicht entwickeln. Es geht gar nicht so sehr um Konservatismus. Ich habe selbst sehr konservative Werte. Ich will zum Beispiel auch eine klassische Kleinfamilie gründen und mich länger um das Kind zu Hause kümmern. Aber ich käme nicht auf die Idee, das anderen Frauen vorzuschreiben. Es geht darum, ob jemand eine Degradierung erfährt, wenn sie oder er einen anderen Weg gehen möchte. Wer in einer konservativen bis reaktionären Gemeinde lebt, kann noch nicht mal seinem Sohn eine neue Rolle nahebringen. Der Mann soll der Beschützer der Frau sein und die Frau die Heimhüterin. Das schließt übrigens ein Studium nicht aus. Auch eine Akademikerin muss dann für Haushalt und Kinder sorgen.

Sie nennen es in Ihrem Buch ein „mentales Korsett“. Wie sieht das konkret aus?

Das geht einher mit einem sehr oberflächlichen Gottesbild. Eine Frau ist religiös gesehen nur dann praktizierend, wenn sie sich verhüllt. Das spielt schon in Kinderbüchern eine Rolle: Wenn du etwa in der Schule unverhüllt bist und zufälligerweise bei einem Unfall stirbst, stirbst du als Unverhüllte und das könnte Gott bestrafen. Wer mit so etwas aufwächst, der traut sich später oft nicht zu sagen: Jetzt reicht’s,das will ich nicht. Die verhüllten Frauen kritisieren oft das angebliche westliche Modediktat, dabei ist ihr Kopftuch ebenso ein Kleidungsdiktat. Ich kann mich einem Modediktat jederzeit entziehen, aber die Mehrheit kann nicht einfach, wenn ihr heiß ist, das Kopftuch abnehmen. Das Kopftuch abzulegen wird als Verrat begriffen. Und dieses Korsett führt bei vielen tuchtragenden Frauen dazu, dass sie nach außen lautstark die Islamfeindlichkeit kritisieren, um von diesen patriarchalen Strukturen innerhalb der Gemeinden abzulenken. Sonst müssten sie sich mit der eigenen Familie, mit den Moscheevereinen, mit den Verbänden anlegen, und das wollen sie nicht. Man kann aber nicht so tun, als ginge das einen nichts an, wenn die Verbände dafür sorgen, dass Mädchen oder auch Homosexuelle sich nicht frei entwickeln können.

Seh' ich gut aus? Bin ich nett genug? Wie finden mich andere? Fragen, die das Leben vieler Frauen bestimmen. Oder anders formuliert: das innere Korsett. Damit beschäftigt sich die Sonderausgabe zum diesjährigen Internationalen Frauentag am 8. März. Unter anderen mit Laurie Penny, der Muslimin Sineb El Masrar, der Modebloggerin Katrin Lange, der Autorin Gabriele Häfner, den Soziologinnen Cornelia Koppetsch und Sarah Speck, dem Vollzeitpapa Jochen König und dem AutorInnen-Duo Almut Schnerring und Sascha Verlan. Die komplette Ausgabe finden sie gedruckt am Kiosk oder digital am eKiosk.

Welche Kopftuchträgerin in der Öffentlichkeit ist denn in diesem Sinn für Sie glaubhaft?

Warum gibt es nicht mal eine Aktion, bei der Kopftuchträgerinnen symbolisch ihr Kopftuch abnehmen – aus Solidarität mit den Frauen und Mädchen, die es nicht freiwillig tragen?

Momentan kann ich keine benennen. Nehmen Sie etwa die Juristin, die angeblich wegen ihres Kopftuchs in Neukölln ihr Rechtsreferendariat nicht antreten konnte. Sie hat Frauen dazu aufgefordert, sich symbolisch ein Kopftuch aufzusetzen. Warum gibt es nicht mal eine Aktion, bei der Kopftuchträgerinnen symbolisch ihr Kopftuch abnehmen – aus Solidarität mit den Frauen und Mädchen, die es nicht freiwillig tragen? Aber ich bin mir sicher: Es gibt diese Frauen. Sie sind nur noch nicht sichtbar.

Ein Keuschheitsgürtel gehört auch mit zum Korsett, oder?

Ja, in mehrfacher Hinsicht. Zum Beispiel bleiben geschiedene Frauen oder entjungferte Musliminnen deshalb oft ohne muslimischen Mann. Denn sie dürfen ja nach der klassischen Auslegung keinen Nichtmuslim ehelichen. Hinzu kommt, dass viele dieser unsicheren Männer ihre sexuellen Fertigkeit keinem Vergleich aussetzen wollen. Da geht es auch weniger um die Religion als um die Beschränktheit der Männer, die sie dann aber religiös begründen.

Gibt es im säkularen Deutschland unter den Muslimen eine Entwicklung hin zu einer Liberalisierung oder folgen Sie dem weltweiten Trend zu mehr Fundamentalismus?

Die Saudis verbreiten ihren Wahhabismus, diesen extrem fundamentalistischen Islam, weltweit. Er ist der Nährboden für Extremismus. Auf der anderen Seite sagt eine Mehrheit der Muslime, Religion hat im Staat nichts zu suchen. Es wird interessant, wie laut die liberalen aber auch säkular-traditionellen Stimmen werden. Das Muslimische Forum Deutschland etwa, in dem ich mich auch engagiere, vertritt diese säkularen Positionen. Es wurde auf Initiative des Psychologen Ahmad Mansour gegründet. Vielen Muslimen wie Nichtmuslimen ist die reiche islamische Geschichte kaum bekannt. Es gab etwa Zeiten, in denen Homosexualität kein Problem war. In denen der Westen neidisch und verachtend auf die Sinnlichkeit des Ostens blickte. Meine Einladung lautet deshalb immer: Entdeckt die Geschichte. Ich hoffe einfach, dass wir Verbände wie den Zentralrat der Muslime dazu bringen können, ihr Frauenbild zu modernisieren – übrigens bevor sie sich hinstellen und Flüchtlinge integrieren wollen. Da sollten sie sich erst mal selbst integrieren.

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Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

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