„Kein Lärm nach 22 Uhr“

KOLONIALISMUS Der philippinische Regisseur Kidlat Tahimik über formale Abzweigungen, die Zwangsjacke fremder Kultur und Holzschnitzerei als Kunst

Philippiner mit bayerischem Migrationshintergrund: Kidlat Tahimik Foto: Wolfgang Borrs

Interview Barbara Wurm

taz: Herr Tahimik, tragen Sie im Winter Hosen oder treten Sie nach den Vorführungen halbnackt auf?

Kidlat Tahimik: Ich habe noch keine Performance im Lendenschurz, der traditionellen Kleidung der Ifugao, gemacht. Die Retrospektive war bisher entspannt.

Berlin ist nicht zufällig der Ort Ihrer „Wiederankunft“ …

Dass ich nun vom deutschen Publikum geehrt werde, das auf hohem Niveau über Filme nachdenkt, ist fantastisch. Ulrich und Erika Gregor haben mir die Türen für meinen Debütfilm, „The Perfumed Nightmare“, geöffnet. Er lief 1977 im Forum der Berlinale.

War das philippinische Kino hierzulande damals bekannt?

Manuel Condes „Genghis Khan“ entstand bereits 1950. Lino Brocka wurde erst 1978 entdeckt. Ich landete zur rechten Zeit am rechten Ort. Der Rest ist Geschichte.

Meinen Sie damit Ihre Bekanntschaft zu Werner Herzog? In „Balikbayan #1 – Memories of Overdevelopment Redux III“, Ihrem Film, der 2015 den Caligari-Preis bei der Berlinale gewann, taucht er kurz auf …

Ja, er warnt mich: „Kidlat, aus dir wird nie ein guter bayerischer Filmemacher.“ (lacht) Ich hatte nur wenige Konversationen mit Werner Herzog, aber sie waren wirklich wichtig, zumindest was meine Wahl als Künstler betrifft.

Sie haben sich in München kennengelernt.

Ich war dabei, meine Koffer zu packen, meine Frau (eine Bayerin) und ich hatten Angst, unserem Sohn eine Wernher-von-Braun-Erziehung angedeihen zu lassen (lacht) … und sind zurück auf die Philippinen. Da bestärkte mich Herzog, ich solle lieber bleiben, wo ich mich „zu Hause“ fühle, auch formal. Die meisten Leute warnten mich vor meinen Abzweigungen und Umleitungen, Herzog sagte nur: „But you are best in detours!“

Herzog ist verantwortlich, dass sie weder Neuer Deutscher Filmemacher noch Hollywood-Regisseur wurden.

Herzog drehte damals „Stroszek“ und fuhr selbst nach Köln, um vor 28 Leuten seinen Film zu präsentieren. „Wir müssen unser Publikum erziehen, Kidlat!“ Seither weiß ich: Auch für die 28 Zuschauer, die ich in Köln gehabt hätte, lohnt es sich. Ich fahre mit dem Projektor zu den Menschen, mit fahrradbetriebenem Generator, wenn es sein muss.

Auch der Indie-Weg führt zum Erfolg. Lav Diaz ’ Film über den philippinischen Unabhängigkeitskampf lief im Wettbewerb der Berlinale.

Ich habe mich so für ihn gefreut. Lav nennt mich „tatay“, Papa. Er pfeift auf psychologische Studien, wonach westlichen Zuschauern nach zwei Stunden der Popo juckt. Auch ich erzähle meine Geschichten genau in dem Format, das mir richtig erscheint, kreiere dabei einen persönlichen Kosmos. Ich arbeite nicht mit Schauspielern, sondern mit Freunden und der Familie.

In Ihrem großartigen No-Budget-Film „Balikbayan“ – übersetzt „Gastarbeiter“ – geben Sie selber Enrique von Ma­lakka, den Sklaven von Ferdinand Magellan. Nicht der Portugiese ist der erste Weltumsegler, sondern der Philippiner. Ist das die radikale Umschreibung der Kolonialgeschichte?

Etwas in meinem Kopf, in meiner Seele ist mit der Kolonisierung im Unreinen. Wir, meine Kinder, deren Kinder, müssen darüber nachdenken, warum wir dem Konsum heillos ergeben sind. Weil das mit meinem eigenen Unbehagen zusammengeht – das ich erstmals gespürt habe, als ich „Perfumed Nightmare“ machte –, wurde klar, dass es nicht drum geht, die USA zu beschuldigen, à la „Yankee, go home“, sondern eher um die Frage, warum meine Kultur in der Zwangsjacke der fremden Kultur verharrt.

Ein Teil des Films – die Weltumseglung rund um Magellans Todesjahr 1521 – entstand vor fast 35 Jahren. Den zweiten Teil haben Sie erst vor Kurzem gedreht: Die Reinkarnationen der Figuren treffen sich 500 Jahre später beim Blumenfest.

Kidlat Tahimik

geboren 1942, gilt als Vater des „Dritten Kinos“ im Allgemeinen und des philippinischen Independentfilms im Besonderen. Einst sollte er Präsident seines Landes werden. So aber kam es besser: Der selbst ernannte Präsident des Wernher-von-Braun-Fan-Klubs („The Perfumed Nightmare“, 1977) umsegelt als Sklave Enrique und damit als erster Mensch die Welt: „Balikbayan #1 – Memories of Overdevelopment Redux III“, zu sehen ab heute im Arsenal-Kino Berlin.

Es ist nicht so, dass ich 35 Jahre unterwegs gewesen wäre. Aber der aktive Part war 1979–88, wir drehten in historischen Kostümen und auf 16 mm. Ich wollte ein partizipativer Vater sein, also habe ich das Material ins Regal gelegt. Erst 2012 machte ich weiter. Ich habe erst beim Schnitt verstanden, dass ich den Film nie aufgegeben habe. So enthält etwa „Why is Yellow the Middle Colour of the Rainbow“ (1984/94) Kommentare zu Enrique. Das alles gehört zur Gestation und Reifung der Reise des Sklaven von Magellan dazu. Eine unbewusste Verknüpfung, die auch für die Atmosphäre der zeitlichen Tiefe des Films sorgt.

Im Film gibt es diese aberwitzigen Kidlat-Tahimik-Elemente – Jo-Jo-Spielen auf dem Baum, Magellans letztes Bad, das globale Baumpflanzen –, die gleichzeitig historische, politische, ökologische und ökonomische Tiefe erzeugen.

Jetzt gebe ich ein Geheimnis preis: „Redux V“ (Fassung „IV“ ist bereits im Umlauf) wird einen Gastarbeiter-Abschnitt haben, für mich als ökonomisches Detail zentral. Ich posiere als Modell für Hieronymus Bosch, arbeite als Babysitter für die Prinzessin und als Holzschnitzer für Mönch Tetzel (eine Propaganda für den Verkauf von Ablässen – bevor Luther ins Spiel kommt). Das Annageln der Thesen hätte Werner Herzog übernehmen sollen …

Kann man sagen, dass Ihre Performance im Film eine Art Reenactment ist? Als Teil der indigenen Kultur, die mit Masken und Personifikationen immer gespielt hat?

Ich bin mir nicht sicher, was Reenactment hier heißt. Wenn ein Reframing von Geschichte damit verbunden ist – ja. Ich interpretiere, wie unser koloniales Karma das gegenwärtige Verhalten der Menschen beeinflusst. Wir haben reiche indigene Grundwerte, etwa das, was wir „Kapwa“ nennen: Wir beziehen die anderen ein, bei jeder Entscheidung. Das Paradigma der Gemeinschaft steht der industriellen Kultur entgegen, die viel expliziter Grenzen markiert. Du bist mein Freund, aber vorher kommt mein Job. Aktuell und in Bezug auf die Flüchtlingsproblematik: Lassen wir Menschlichkeit im Leben noch zu, oder folgen wir dem Protokoll der modernen Gesellschaft: Nach 22 Uhr kein Waschmaschinenlärm, bitte. Meine Filme halten dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit am Leben. Wir sind Mitmenschen, nicht einfach moderne kulturelle Tiere, die an die morgige Sicherheit mehr denken als daran, wer heute an die Tür klopft.

Hat Ihre Haltung auch mit Ihrer Zuwendung zur Kultur der Ifugao zu tun?

Als ich „Balikbayan“ 1979 begann und Enrique als Ifugao im Lendenschurz spielte, war das ein Stereotyp des Primitiven, ein visuelles Gimmick. Vor 20 Jahren wurde ich von diesem Dorf tatsächlich adoptiert. Ich verstehe die Kultur heute viel besser, lerne die Sprache, bin jetzt ein Holzschnitz-Sensei. Begänne ich heute damit, würde ich weit über die exotische Kostümierung hinausgehen.