Deutsche Zustände

Die gute Nachricht: Immer mehr Bundesbürger mögen die ­Demokratie. Die schlechte: Eine starke Minderheit sieht das anders

Die gespaltene Republik

VORURTEILE Trotz aller Antiasyl­proteste: Eine Studie sieht keinen wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland. Wohl aber eine immer stärkere Polarisierung der Gesellschaft – und Gewaltbereitschaft bei Flüchtlings-gegnern

Zweimal Deutschland: Demokraten demonstrieren gegen eine AfD-Demonstration (links), während die AfD-Anhänger einige Meter entfernt ein „Asylchaos“ beschwören Foto: Christian Mang

Aus Berlin Konrad Litschko

Es ist ein denkbar widersprüchliches Bild, das Deutschland derzeit abgibt. Einerseits helfen bis heute Zehntausende Freiwillige bundesweit Flüchtlingen, überbringen Spenden, arbeiten ehrenamtlich in Unterkünften. Auf der anderen Seite reißt die Gewalt gegen Asylbewerber und der Zulauf zu rassistischen Protesten nicht ab.

„Was Deutschland jetzt braucht, ist eine ­einzige starke Partei, die die Volks­gemeinschaft verkörpert“

Zustimmung 21,9 Prozent

Seit Mittwoch liegt nun eine wissenschaftliche Untersuchung der aktuellen politischen Gemengelage vor: Die Universität Leipzig stellte in Berlin ihre neue „Mitte“-Studie vor – eine der bedeutendsten Langzeitstudien hierzulande, die seit 2002 läuft. Und die Studie präsentiert einen auf den ersten Blick erstaunlichen Befund: Trotz aller Antiasylproteste sind rechtsextreme Einstellungen nicht gestiegen. Diejenigen aber, die diese Positionen vertreten, treten inzwischen deutlich gewaltbereiter und enthemmter auf.

2.420 Personen hatten die Wissenschaftler für ihre Studie im Frühjahr 2016 persönlich befragt. Als Ergebnis bemerkten sie eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. So lassen sich inzwischen 60 Prozent der Befragten dem aufgeschlossenen, demokratischen Milieu zuweisen, das die Demokratie klar bejaht und sich politisch einbringt. Vor zehn Jahren war diese Gruppe noch um 23 Prozentpunkte kleiner. Das Gegenlager der „Vorurteilsgebundenen“ und „Antidemokratisch-Autoritären“ schrumpfte dagegen im umgekehrten Verhältnis von 63 auf 40 Prozent.

Auf der anderen Seite aber steigen insgesamt Vorurteile, vor allem gegen Muslime, Flüchtlinge sowie Sinti und Roma. So sagten 41 Prozent aller Befragten, Muslimen sollte generell die Einwanderung nach Deutschland verboten werden. 59 Prozent warfen Flüchtlingen vor, nicht wirklich verfolgt zu sein. Von einer „gefährlichen Überfremdung“ in Deutschland sprach jeder dritte Befragte. Und die Hälfte forderte, Sinti und Roma aus Innenstädten zu „verbannen“. „Ekel“ vor küssenden Homosexuellen verspürten 40 Prozent.

Die Ablehnungen variieren zwischen den Milieus, aber selbst die „Demokraten“ sind laut Studie zu 17 Prozent islamfeindlich. Die Vorurteile finden sich damit in der Mitte der Gesellschaft wieder. Denn: Zu den klaren, „manifest Rechtsextremen“ zählten die Forscher nur 5,4 Prozent – 4 Prozentpunkte weniger als noch zu Beginn der Erhebung vor 14 Jahren. Und selbst bei der „Ausländerfeindlichkeit“ – immer noch bei jedem fünften Befragen anzutreffen – gab es einen leichten Rückgang über die Jahre.

„Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“

Zustimmung 41,4 Prozent

Das Problem ist nur: Die schrumpfende Gruppe der Demokratieabgewandten – die 40 Prozent der Gesellschaft also – radikalisiert sich. Nur noch 13 Prozent aus diesem „vor­urteilsgebundenen-autoritären“ Milieu schenken Parteien Vertrauen, gerade mal jeder Fünfte noch der Bundesregierung. Selbst der Polizei, bisher die Institution mit dem größten Ansehen, misstraut die Hälfte. Zudem erklärten 36 Prozent dieser Gruppe, bereit zu sein, sich mit Gewalt „gegen Fremde durchzusetzen“. Jeder Zweite akzeptiert, wenn andere handgreiflich „für Ordnung sorgten“.

Ihre Heimat findet dieses Milieu vor allem bei Pegida und in der AfD (siehe unten). Ebenso wie die klar Rechtsextremen, die längst nicht mehr auf die NPD setzen, sondern zu 35 Prozent die AfD wählen. „Die rechtsextrem Eingestellten enttabuisieren nicht nur mit Macht die Ideologie der Ungleichwertigkeit“, warnen die Studienleiter Oliver Decker und Elmar Brähler. „Sondern sie halten auch die gewaltvolle Durchsetzung ihrer Interessen für legitim.“

Ein Einzelfall ist Deutschland damit im internationalen Vergleich nicht. Islamfeindliche Parolen haben in vielen euro­päischen Ländern Zulauf. Und in den USA fordert laut einer aktuellen Umfrage jeder Zweite ein Einreiseverbot für Muslime.

„Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“

Zustimmung 40,1 Prozent

In Deutschland lassen sich die Folgen der Leipziger Befunde längst beobachten. 1.031 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte gab es im vergangenen Jahr – ein einsamer Rekord. Und die Gewalt reißt nicht ab. In diesem Jahr gab es bereits erneut 484 Angriffe auf Unterkünfte, darunter 47 Brandstiftungen.

„Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden“

Zustimmung 59,9 Prozent

Von einer „bedrohlichen Entwicklung“ sprach jüngst Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Bundespräsident Joachim Gauck warnte vor einer Radikalisierung einiger Bevölkerungsgruppen, die „Unfrieden schürten“. Die Mehrheit aber seien diese nicht: Es sei „wirklichkeitsfern, ja lächerlich, wenn sich ihre Sprecher anmaßen, den Willen des Volkes zu repräsentieren“.

Diese Mehrheit will am Wochenende auf die Straße gehen: In fünf Städten – Berlin, München, Hamburg, Leipzig und Bochum – rufen der DGB, Pro Asyl oder die Diakonie zu Menschenketten auf. Zehntausende sollen sich beteiligen. Ihr Motto: „Hand in Hand gegen Rassismus“.