EMtaz: Der Torhüter, die ärmste Sau: Vom Halbgott zum Vollidioten

Es ist einfach ungerecht: Ein einziger Fehler reicht, um aus einem Torhüter eine Witzfigur zu machen. Albert Camus kennt das.

Das Gegentor der Russen gegen die Engländer. Torhüter Akinfeev segelt am Ball vorbei.

Guck mal hinter dir, eine Torwartecke. Der russische Torhüter Akinfeev wird sich noch umgucken Foto: reuters

Man hat im Vorfeld der Partie viel über die Torhüter gesprochen. Und wie fast immer, wenn man viel über Torhüter spricht, ging es kaum um ihr Können. Die Fehlleistungen englischer Keeper erzählt man sich wie früher auf dem Schulhof Fritzchen-Witze, mit der gleichen Lust an fremder Leute Versagen, mit der gleichen Mischung aus Unglaube und Schadenfreude.

Torhüter, das kommt dem am nächsten, was in der Stummfilmära die Helden der Komödien gewesen sind, diese liebenswerten Trottel, denen die Realität immer nur zustieß wie ein Verhängnis. Wer Torhüter verstehen will, muss Buster Keaton sehen.

Da war zunächst die 71. Minute. Rooney bekommt den Ball am 16er, stoppt ihn kurz und schiebt ihn dann in die Ecke. Eine flüssige, völlig selbstverständliche Bewegung, als würde er ein Buch ins Regal stellen. Es ist absolut klar, dass der Ball ins Tor gehört, es gibt im Moment des Schusses kaum einen, der daran zu zweifeln wagt.

Kaum einen außer Akinfeev. Akinfeev haut sich mit der Eleganz eines Pinguins, der vom Land ins Wasser hopst, im Bruchteil einer Sekunde in die Ecke, wirft die Hand aus, der Ball springt vom Handballen an die Latte und dann zurück ins Feld. Man müsste für diese Parade ein neues Wort erfinden, um sie angemessen zu beschreiben, ein ganz neues Konzept, das beschreibt, wie unwahrscheinlich diese Bewegung war, sie war schlicht akinfeengleich.

Ein falscher Schritt und die Geschichte bricht zusammen

Standing ovations wären angemessen gewesen. Ein Blumenstrauß, überreicht von Meryl Streep. Irgendeine Trophäe.

Es gab natürlich nichts. Akinfeev stand da, Mund halb offen, stoisch wie immer, ein Gesicht wie eine verschwommene Erinnerung an Ray Liotta in Goodfellas, aber kein bisschen überschwänglich, wie auf Sedativa.

Als wüsste er schon, was noch kommt.

Ein Stürmer darf Dutzende Fehler machen und wird immer noch geliebt. Giroud hat im Eröffnungsspiel in der ersten Halbzeit zwei Pässe an den Mann gebracht, davon war einer der Anstoß. All das ist vergessen und vergeben, sobald er einmal armerudernd seine Birne in eine Flanke hält. Dann liebt man ihn, dann verzeiht man ihm den Schwachsinn, den er zuvor mit dem Ball angestellt hat.

Torwart sein ist Mittel. Und wie jedes Setting hat es schlicht zu halten.

Und so lief Akinfeev einmal einen Schritt in die falsche Richtung, und seine ganze Geschichte brach zusammen. Ein Augenblick, und aus dem Held wurde ein Wurm. „Torwarteck“, tönte es vor tausenden von Fernsehern im Moment, als Diers Freistoß einschlug. „Torwarteck“, ein Wort reicht, um alles vergessen zu machen, was vorher war.

Camus wird oft zitiert mit dem Satz, dass er alles, was er über Moral wisse, beim Fußball gelernt habe. Gerade Camus, möchte man meinen, der Autor des Absurden, der wie kaum ein anderer die Untiefen dieser Moral ausgelotet hat. Dieser Satz macht nur dann Sinn, wenn man weiß, welche Position Camus damals spielte: Torhüter nämlich.

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