Essay Suche nach Erklärungen für Terror: Dieses erschöpfende Kreisen

In Würzburg der Anschlag. Ich bin weit weg, in der Ukraine, und stelle mir vor, was kommen wird. Krieg ist hart, genau wie die Ungewissheit.

Ein ausgeblichenes Absperrband hängt an Bahnschienen

Reste eines Absperrbandes nach dem Anschlag in Würzburg Foto: dpa

Ich sitze im Krieg und bin froh, dass ich nicht in Deutschland bin. Draußen wird geschossen, den ganzen Abend schon. Wir liegen in den Räumen einer alten Post, die jetzt eine Kaserne ist, und hören dem Donnern von Mörsern und Granatwerfern zu. Warten auf den Schlaf. Rauchen. Smartphone anstarren. Ich lese Würzburg. Amok. Allahu akbar. Und denke, dass es vielleicht besser ist, hier in der Ukraine zu sein statt in Berlin.

Kurz nur erlaube ich mir den Gedanken, ich bin erschrocken. Ich habe keine Angst um mein Leben, diese Angst könnte ich auch hier in Awdijiwka haben. Das Gefühl ist Müdigkeit. Leere. Ich stelle mir vor, was kommen wird. Die Suche nach Erklärungen. Terror oder Amok? Flüchtlinge. Hat Merkel den IS nach Deutschland geholt?

Zum Glück können mir die Soldaten im Zimmer nicht ins Hirn gucken. Vier sind in ihrer Einheit im vergangenen Monat gestorben, hat die Sanitätsoffizierin gesagt. 18 verwundet. Ich schaue nochmal auf die Nachrichten. Eine Fahne des „Islamischen Staates“, selbst gemalt. Irrer Axtmörder. Mehr in Kürze. Und das Gefühl ist wieder da.

Die Suche nach Antworten wird von vorne losgehen. Auf Twitter, Facebook und XY.de werden die ersten anfangen, den anderen zu zeigen, dass sie nicht sehen, was eigentlich vorgeht in diesem Land, dem Nazipack, dem linksversifften Gutmenschen. Möglichst so, dass es nicht nach Instrumentalisierung der Opfer aussieht.

Wenn die Diskussion anfängt

Über Killerspiele wird auch wieder geredet werden, aber das fällt mir an diesem Abend nicht ein. München war da noch nicht. Untersuchungen zum Waffenbesitz, Studien darüber, wie gefährlich Ego-Shooter sind – gibt es alles, interessiert aber nicht wirklich. Die Medienkritik, die Kritik an der Kritik. Das Ritual sehen, das Ritual erkennen, Kritik am Wort „Ritual“. Denkt man heute alles schon mit, bevor die Diskussion anfängt. Ist eigentlich etwas passiert, nachdem wir unsere letzten Runden im Debattenkarussell gedreht haben? Oder mussten wir nur kotzen und sind weitergewankt?

Erklärungen. In der Ukraine gibt es eine große: Russland. Je länger der Krieg im Donbass dauert, desto gewichtiger wird sie. Sie liefert für alles einen Grund. Für die Toten an der Front. Höhere Preise. Dafür, dass Menschen andere Dinge sagen als erwartet.

Viele UkrainerInnen sind nicht so. Manche geben an einem Tag Putin für alles die Schuld, am nächsten schimpfen sie über die naiven Nachbarn, die Moskau für alles verantwortlich machen. Aber sie existiert, die eine Erzählung. Man kann ihr glauben oder sie scheiße finden. Man kann sich zu ihr verhalten, was auch festhalten bedeutet.

Am Sonntag demonstrieren tausende Erdogan-Fans in Köln. Wie schätzen Deutsch-Türken die aktuelle Lage in der Türkei ein? taz-Autor Volkan Agar war in der Kölner Keupstraße und sprach mit Anwohnern und Ladenbesitzern. Seine Reportage lesen Sie in der taz.am wochenende vom 30./31. Juli. Außerdem: Eine Tierethikerin und ein Affenforscher diskutieren über Moral und Tierversuche. Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit erklärt nach den Anschlägen, was die Täter eint. Und ein taz-Autor beschreibt seine Sammelleidenschaft für Schockbilder auf Zigarettenschachteln. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Hier an der Front ist sie besonders stark, klar. Wir die Guten, die die Bösen. Im Halbdunkel der verhangenen Fenster mit Würzburg auf dem Schirm erscheint es mir ein paar Augenblicke lang tröstlich zu wissen, wo der Feind steht. Und ich merke, wie anstrengend es in Deutschland sein wird, nicht einmal zu wissen, ob es überhaupt einen Feind gibt.

Mehr Anworten als Fragen

Was ist ein guter Feind? Einer, der böse genug ist, dass man kein schlechtes Gewissen haben muss, ihm zu schaden. Aber nicht so groß, dass der Kampf vergeblich ist.

Nach Würzburg und München schreiben JournalistInnen Texte über Männer und Aggression. Doch Männer gibt es viele, zu viele, was soll man machen? In der FAZ steht ein ruhiger Text über Selbstmordraten und Fragen an die Gesellschaft. Schwer zu fassen, wie soll man das bekämpfen? Was wäre „das“ überhaupt? Der „Islamische Staat“ aber ist ein guter Feind. Besiegbar, wenn seine Gegner zusammenarbeiten. Die AfD auch.

Die beste Erklärung ist eine, mit der man etwas anfangen kann. Eine, die man in seinem Leben, in seinem Kampf gebrauchen kann. Gegen die Islamisierung, die Nazifizierung, was auch immer.

Erklären können heißt auch schneller abheften. Aufmerksamkeit ist eine endliche Ressource. Aleppo umzingelt, Brexit, der Putsch in Ankara. Alles will beachtet sein. Die Ukrainer wollen übrigens auch mehr Platz in unseren Timelines, Zeitungen, Tischgesprächen. Welt­innenpolitik. Früher war einem die FDP egal, heute kann man aus Dikatorengeschrei und massenhaftem Ertrinken aussuchen, was man ignoriert. Nachrichteneskapismus. Ein paar Verletzte in Bayern? Die Türkei ist doch gerade viel wichtiger.

Dann bekennt sich der IS zum Axtschwinger. Gut, ist wenigstens das erledigt. Vielleicht hat sich das schwächelnde Kalifat die Tat im Nachhinein angeeignet, es braucht jede PR. Mag sein, aber IS! Stempel drauf. Der Mann aus München – AfD. Ob da Migrationserfahrungen eine Rolle gespielt haben? Persisch-türkisch-arabische Verwerfungen? Hass auf alle Menschen? Egal.

Volksbetroffenheit statt Erklärungen

Wem nicht schnell genug Erklärungen produziert werden, der fordert Volksbetroffenheit. Gelassenheit gilt dann als Mangel an Mitgefühl: Wenn wir schon keine Erzählung finden, die die Ereignisse von Würzburg bis Reutlingen zusammenhält, lasst uns wenigstens gemeinsam in Panik geraten.

In der Ukraine frage ich öfter: Moskau soll es gewesen sein, schon wieder? Es ist zu einfach. Und es ist bedrückend, die Macht Putins als Allmacht zu fühlen. Ich habe Menschen weinen sehen, weil sie glauben, dieses absolut Böse sei unbesiegbar. Resignation. Depression. Gibt es einen Unterschied zwischen der Erschöpfung wegen der ganz großen, zu großen Erklärung in diesem Land und der leeren Müdigkeit aufgrund der erfolglosen Suche nach der einen großen Erzählung für alles, was gerade in Deutschland geschehen ist?

Gibt es einen Weg, mit Unsicherheiten zu leben, ohne irre zu werden? Können wir – JournalistInnen, PolitikerInnen, Menschen, die im Internet schreiben – dieses erschöpfende Kreisen vermeiden? Von dem wir schon vorher wissen, dass es lange dauert, bis ein oder zwei große Antworten dabei herauskommen, die dann doch nicht stimmen, sich aber einigermaßen ins „Weiter so“ integrieren lassen.

Können und wollen wir lernen, dass Dinge, die gehäuft auftreten, nicht zwangsläufig eine gemeinsame Erzählung haben? Halten wir es länger als einen Tag ohne Antwort aus? Interessieren uns Erkenntnisse, die später kommen? Verkraften wir, dass etwas unerklärt bleibt? Haben wir dann Angst, in die Zeit vor der Aufklärung zurückzufallen, als manches eben Gott war, Schicksal? Oder brauchen wir das? Brauchen wir den Triumph so sehr, die Lust daran, Sieger geblieben zu sein, die einzig richtige Erklärung produziert zu haben?

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