Wie Gülen zum Staatsfeind Nr. 1 wurde: Die dunkle Seite der „Gemeinde“

Dass Erdoğan rigoros Gülen-Anhänger bekämpft, macht diese nicht zu Demokraten. Intrigen und kriminelle Methoden zeichnen die Sekte aus.

Der Prediger Fethullah Gülen

Ende Juli 2016: Sektengründer Fethullah Gülen in seinem Haus in Saylorsburg, Pennsylvania, USA Foto: reuters

ISTANBUL taz | Vor einigen Tagen war der baden-württembergische Ministerpräsident Winfrid Kretschmann zu einem eher abwegigen Thema im Fernsehen zu sehen. Es ging um einige Schulen im Lande, die nach Meinung des türkischen Generalkonsulats in Stuttgart doch einmal genauer unter die Lupe genommen werden sollten. Ob die sich denn auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung bewegen, wollten die Türken wissen. Bebend vor Zorn wies Kretschmann diese Zumutung aus Ankara zurück. Die Türkei habe sich in deutsche Belange, in deutsche Schulbelange zumal, nicht einzumischen.

Hintergrund der Anfrage war, dass die fraglichen Schulen dem Umkreis der islamischen Gülen-Bewegung zugerechnet werden. Die türkische Regierung beschuldigt diese Sekte, hinter dem blutigen Putschversuch vom Juli mit mehreren hundert Toten zu stecken.

Nun ist es das gute Recht eines Ministerpräsidenten, sich eine Einmischung von außen in seine Schulhoheit zu verbitten. Allein: Mit welcher Verve Winfried Kretschmann reagierte, überraschte dann doch. Als alter Maoist sollte er wissen, dass nicht alles immer so ist, wie es scheint. Die Gülen-Bewegung strebt einen islamischen Staat an – demokratisch, tolerant oder säkular sind ihre Ziele keineswegs.

Allerdings ist Winfried Kretschmann mit seiner Haltung nicht allein. In Deutschland und in den USA, wo der Guru der Sekte, Fethullah Gülen, seit Ende der 90er Jahre im Exil lebt, tun viele Politiker und Journalisten jetzt so, als seien die Gülen-Anhänger tatsächlich so offen und dialogbereit, wie sie sich nach außen geben. Da erscheinen Journalisten der Gülen-Zeitung Zaman plötzlich als verfolgte Demokraten. Und der Sektenführer selbst wird in der liberalen US-Öffentlichkeit – allen vorweg von der New York Times – behandelt wie ein Sufiweiser, der angeblich das positive Gesicht des Islams der Zukunft darstellt.

Gezielte Lobbyarbeit

Das hat auch damit zu tun, dass es Gülen durch gezielte Lobbyarbeit in Brüssel, Berlin, Washington und New York gelungen ist, prominente Politiker für sich einzunehmen. Die Vertreter der Bewegung geben sich als vermeintliche Partner bei der Integration türkischer Migranten – oder als Antipoden von al-Qaida, als dem Westen zugewandte „moderate Muslime“.

Mit dieser Strategie punkten sie vor allem in den USA. Hillary Clinton erhält Wahlkampfspenden von der Gülen-Bewegung. Während des gerade zu Ende gegangenen Nominierungskongresses der Demokraten saßen etliche bekannte Gülenisten in der VIP-Lounge, als Obama Hillary Clinton rühmte, wie der Washingtoner Hürriyet-Korrespondent Tolga Tanis berichtet.

Ähnlich läuft es auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern: Gülen-nahe Vereine schaffen es immer wieder, bekannte Persönlichkeiten zu Veranstaltungen einzuladen, indem sie von Dialog und Integration sprechen. So war beispielsweise die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die sich sehr verdienstvoll für die deutsch-türkischen Beziehungen einsetzt, im Beirat des Forums für Interkulturellen Dialog, des führenden Gülen-Vereins in Deutschland.

Dass die Gülen-Schulen über jeden Zweifel erhaben sind, bezweifelt jedoch nicht zuletzt das amerikanische FBI. Die US-Bundespolizei ermittelte gegen etliche Gülen-nahe Schulen, weil der Verdacht besteht, dass sie öffentliche Gelder für die Arbeit ihrer „Bewegung“ zweckentfremdet haben.

Einmal abgesehen davon, ob die türkische Regierung beweisen kann, dass Fethullah Gülen von Pennsylvania aus den Coup d’Etat angeordnet hat – zuzutrauen wäre es ihm allemal. Präsident Recep Tayyip Erdoğan selbst hat sich bis vor wenigen Jahren noch jener klandestinen, rufmörderischen bis kriminellen Methoden bedient, die die Gülen-Bewegung neben anderem auch auszeichnet.

Eine Sekte mit mehreren Gesichtern

Die Gülen-Bewegung nennt sich selbst Hizmet, die Dienenden. In der Türkei wird sie aber in der Regel nur Cemaat, die Gemeinde, genannt. Jeder weiß, um welche Gemeinde es sich handelt: um eine Sekte mit mehreren Gesichtern.

Das Gesicht, das Gülenisten am liebsten zeigen, ist ihr Bildungs- und Dialoggesicht. Als Gründer seiner Religionsbewegung hatte der heute 75-jährige Fethullah Gülen schon früh erkannt, dass die Macht im Staat nicht zuletzt über Bildung zu erringen ist.

Mit Muslimen, die ihr Wissen lediglich aus Korankursen schöpfen, sei jedenfalls kein Staat zu machen. Gülen setzte sich deshalb früh dafür ein, Kindern aus islamischen Familien in eigens gegründeten Privatschulen eine gute Bildung zukommen zu lassen.

Bildung ist für Gülen kein Selbstzweck

Daraus entwickelte sich mit den Jahren der erfolgreichste Bildungskonzern der Türkei: Neben den Privatschulen gab es Nachhilfeschulen und selbst Privatuniversitäten. Bald strebte Gülens Konzern auch ins Ausland. Zunächst in die Turkrepubliken Zentralasiens, dann nach Europa und in die USA, zuletzt auch nach Afrika.

Ein Alumninetzwerk von Absolventen der Gülen-Schulen, die in sogenannten Lichthäusern zu Mitgliedern der Bewegung wurden, bildet das personelle und finanzielle Rückgrat der Sekte. Sie finanzieren nicht nur Stipendien für ärmere Schüler, sondern auch die Privatuniversitäten und die Medien der Bewegung, wie die Tageszeitung Zaman.

Bildung ist für Gülen aber kein Selbstzweck. Die erfolgreichen Absolventen sollten bevorzugt in den Staatsdienst gehen. Beim Marsch durch die säkularen Institutionen des türkischen Staats sollen sie Schlüsselpositionen besetzen, um so die Türkei wieder zu einem islamischen Staat zu machen. Das bestreiten Gülen-Anhänger auch gar nicht. Was sie dagegen vehement von sich weisen, ist, dass die Sektenmitglieder innerhalb der Institutionen Seilschaften bildeten, die auf das Kommando der Sektenführer hörten.

Es gibt jedoch zahlreiche Berichte, dass dem genauso ist. Bereits im Jahr 2000 schrieb der Expolizist Zübeyir Kindira ein Buch darüber, wie islamische Orden, allen voran die Gülen-Bewegung, die Polizei unterwanderten.

„Die Armee des Imam“

Zehn Jahre später verfasste einer der bekanntesten investigativen Journalisten der Türkei, Ahmet Sik, quasi die Fortsetzung: Sein Buch heißt „Die Armee des Imam“. Es belegt detailliert, wie und wann große Teile der Polizei von der Gülen-Bewegung übernommen wurden.

Ahmet Sik wurde 2011 verhaftet, das noch unveröffentlichte Manuskript beschlagnahmt. Der Besitz des Manuskripts wurde für strafbar erklärt – es erschien trotzdem bald darauf im Internet. Sik saß über ein Jahr in Untersuchungshaft in Silivre, dem Gefängnis für politische Gefangene der Regierungspartei AKP.

Verfolgt und hinter Gittern verbannt wurde Ahmet Sik von Staatsanwälten und Richtern, die der Gülen-Bewegung nahestehen. Dazu zählte unter anderem der damalige Großinquisitor der AKP, Zekeriya Öz. Damals war Zekeriya Öz Chef der Sonderstaatsanwaltschaft, die im Auftrag von Ministerpräsident Erdoğan politische Gegner, Linke, vor allem aber auch kemalistische Militärs, verfolgte. Sie brachte Oppositionelle mit fingierten Beweisen ins Gefängnis – oder trieb sie per Rufmord in den Selbstmord.

Dani Rodrick, Wirtschaftsprofessor in Harvard und Schwiegersohn einer der angeklagten Generäle, konnte nachweisen, dass eine CD mit angeblichen Beweisen für eine Putschvorbereitung fingiert war. Heute gehört Öz zu den geflüchteten Staatsanwälten, die Erdoğan ausgeliefert haben möchte.

Die Allianz zwischen der damals noch jungen AKP von Ministerpräsident Erdoğan und der „Gemeinde“ entstand, als die AKP im Jahr 2002 völlig überraschend alleinige Regierungspartei wurde, aber über keinerlei Leute mit Regierungserfahrung verfügte. Zu jener Zeit stellte die „Gemeinde“ der AKP das notwendige Know-how zur Verfügung, um den überwiegend säkularen, kemalistischen Ministerialapparat in den Griff zu bekommen.

In der ersten Verfolgungswelle im Militär 2008 bis 2010, als Hunderte Offiziere wegen angeblicher Putschpläne angeklagt wurden, waren „Gemeinde“-Staatsanwälte und „Gemeinde“-Richter in extra eingerichteten Sondergerichten die Vollstrecker von Erdoğans Willen.

In die Lücke vorgestoßen

Offenbar gelang es, so klagt man heute in der AKP, „Gemeinde“-nahen Offizieren, die von ihnen selbst geschaffenen Lücken im Militär zu füllen und in die höheren Ränge aufzusteigen. Dadurch seien sie dann in der Lage gewesen, den Putschversuch vom 15. Juli durchzuführen.

Der Bruch zwischen Erdoğan und Gülen kam im Jahr 2013. Das Wall Street Journal sah eine Neuauflage Stalin gegen Trotzki. Und der von Erdoğan verfolgte Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, schrieb jüngst in der FAZ, da kämpften zwei islamische Bewegungen um die Macht im Staate.

Dass Erdoğan in diesem Kampf momentan triumphiert, macht aus den Gülen-Anhängern allerdings noch lange keine Demokraten. Im Gegenteil: Was in diesem Kampf als Erstes auf der Strecke bleibt, ist die Demokratie in der Türkei.

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