16 Jahre Haft wegen „Schlepperei“: Lebensabend ruiniert

Ein deutscher Pensionär nahm eine syrische Familie auf seinem Boot mit von der Türkei nach Griechenland. Dort sitzt er bis heute im Gefängnis.

Ein Mann, Bernd Keller

Wollte seine Pension zusammen mit seiner Frau auf dem gemeinsamen Boot genießen: Bernd Keller Foto: privat

HAMBURG taz | Die Tarnung war perfekt: Das Boot sah aus wie ein kleines schwimmendes Paradies, mit Sonnenliegen an Deck, einer Bar voller selbstgemachter Liköre, einer großzügig ausgestatteten Küche von Mikrowelle bis Tiefkühltruhe und einem Jacuzzi. Solche „Gulet“ genannten Holzschiffe sind an der türkischen Riviera zwischen Bodrum und Marmaris sehr beliebt. Und die „Dolce Vita“ ist eines der hübscheren Exemplare.

Die Besitzer, der Deutsche Bernd Keller und seine von den Philippinen stammende Frau Godelia, sahen auf ihrem Boot aus wie Klischee-Touristen. In Wahrheit jedoch waren sie professionelle Schlepper, die auf dem 21 Meter langem Schiff um des Profits willen Migranten ohne Papiere von der Türkei zu den nahen griechischen Ägäisinseln schmuggelten.

So zumindest klingt die Geschichte, wenn man der griechischen Justiz glaubt. Vor genau zwei Jahren, am Mittag des 14. September 2014, wurde das Paar festgenommen auf Symi, der Nachbarinsel von Rhodos. Sie hatten gerade in einem Hafenrestaurant Platz genommen und Mittagessen bestellt. Zuvor hatten sie sechs Angehörige einer syrischen Familie im Alter von 2 bis 36 Jahren von Bord gelassen und den Flüchtlingen Essen und Trinken gekauft.

Die „Kleine Strafkammer der Dodekanes-Inseln“ verurteilte Bernd Keller wegen „Einschleusung von Ausländern“ zu 16 Jahren und sechs Monaten Haft und einer Geldstrafe von 46.000 Euro. Seine Frau wurde zur Zahlung derselben Summe verurteilt, durfte aber gehen.

Keine Verständigung in Haft möglich

Der Deutsche verbüßt seitdem seine Haftstrafe in einem Gefängnis auf dem griechischen Festland. Ist der inzwischen 69 Jahre alte Pensionär ein als Tourist getarnter Schlepper, der „Illegale“ von der Türkei über die EU-Außengrenze schmuggelte? Eine genauere Befassung mit dem Fall lässt starke Zweifel aufkommen. Dem Autor liegen Akten des Strafverfahrens in deutscher Übersetzung und Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vor. Außerdem konnte er mit dem Verurteilten im Gefängnis telefonieren und dessen Ehefrau befragen.

Die Recherche wirft auch eine politische Frage auf: Welchen menschenrechtlichen Preis ist die EU bereit zu zahlen, um ihr Ziel durchzusetzen: den kompromisslosen Schutz der Außengrenzen vor sogenannter illegaler Einwanderung?

Bernd Keller

„Wir haben die Refugees mitgenommen, aus Mitleid, aus humanitären Gründen“

Bernd Keller verrät sich durch seinen Tonfall als Hesse. In dem griechischen Gefängnis könne er sich mit niemandem verständigen. Er wolle ein schnelles Revisionsverfahren – aber einen Termin dafür gebe es nicht, erzählt er am Telefon. „Ein Skandal“ sei es, was ihm passiere.

Das Boot verrottet

Keller ist ein „deutscher Regierungsamtmann a. D.“. In jungen Jahren arbeitete er als Fluglotse auf dem Frankfurter Flughafen. Deshalb bezieht er eine Beamtenpension. Später arbeitete der gelernte Verfahrenstechniker im Baugewerbe, in Deutschland und Asien. Im Ruhestand steckte er sein handwerkliches Geschick und seine Ersparnisse in die „Dolce Vita“.

„Den Winter verbrachten wir auf den Philippinen, den Sommer auf unserem Boot in der Ägäis. Das war unser Plan für den Lebensabend“, berichtet Keller. 2009 habe er das gebrauchte Schiff im türkischen Bozburun für 60.000 Euro gekauft. Danach habe er sich an die Renovierung gemacht und bestimmte Arbeiten an türkische Werftarbeiter delegiert.

„Wir haben die gesamte Renovierung mit Fotos und Texten in einem Buch dokumentiert, das sich an Bord befindet.“ Hier schleicht sich Vezweiflung in die bisher beherrschte Stimme des Verurteilten. „In der Tiefkühltruhe waren 60 Kilogramm Wildschweinfleisch. Mein Keyboard, meine Musikinstrumente, mein Computer, unser ganzer Besitz war an Bord. Jetzt ist das Boot beschlagnahmt und es verrottet“, klagt Keller. „Es müsste im Winter eigentlich aus dem Wasser gehoben werden.“

Normale Touristen?

Waren der deutsche Pensionär und seine 57-jährige Frau aus den Philippinen vielleicht doch ziemlich normale Türkei-Touristen? Den Vorgang vom 14. September 2014 bestreiten weder Keller noch seine Frau. „Wir haben die Refugees mitgenommen“, erklärt Keller, „aus Mitleid, aus humanitären Gründen.“ Ihre türkischen Bekannten rund um die Bootswerft hätten ihnen die Flüchtlingsfamilie vorgestellt und gefragt, ob das Paar sie nach Griechenland mitnehmen könnten.

„Wir haben zu der Zeit regelmäßig Probefahrten gemacht, auch rüber nach Griechenland“, sagt Keller. „Ich habe mich bereit erklärt, die armen Leute mitzunehmen. Meine Frau hat den Refugees eines der beiden Gästezimmer hergerichtet, ihnen Kekse und Wasser angeboten, dann sind wir rübergefahren. Das war alles am helllichten Tag.“

Wenn er nicht gerade für die taz schreibt, ist Stefan Buchen Autor beim ARD-Magazin „Panorama“.

Nach der Überfahrt wurden die Syrer von der griechischen Polizei vernommen. 2.500 Euro pro Person hätten sie für ihre Flucht bezahlt, gaben sie demnach an. „Nicht an mich“, sagt Keller. „Weder habe ich Geld verlangt noch welches bekommen.“ Laut Urteil fand die griechische Polizei 2.000 Euro in bar bei Keller. Das sei seine Urlaubskasse gewesen und stamme nicht von den Flüchtlingen.

Kann es sein, dass sowohl die Flüchtlinge als auch Keller die Wahrheit sagen? Eine Gratis-Überfahrt widerspricht zwar der Lebenserfahrung. Aber denkbar ist, dass sich einer oder mehrere der türkischen Werftarbeiter als Schlepperagenten betätigt und eine „Vermittlungsgebühr“ kassiert haben. Keller könnte sich den Transport der Flüchtlinge in Form von Arbeiten an seinem Boot bezahlt haben lassen. Aber selbst wenn das so gewesen wäre – wären dann sechzehneinhalb Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe?

In der Urteilsbegründung heißt es, der Deutsche habe „wiederholt“ Migranten „illegal“ nach Griechenland transportiert, zum Beispiel bei einer Fahrt „einen Monat“ vor der Festnahme. Beweise für diese Behauptung finden sich in den Akten nicht. Die griechischen Behörden stellen eine Erklärung in Aussicht. Aber auch nach mehrfacher Nachfrage ist dazu vom griechischen Justizministerium nichts zu erfahren.

Vernehmung per Google-Übersetzer

Keller betont, dass er nur einmal Flüchtlinge mitgenommen habe. Den Behörden des EU-Mitgliedslandes Griechenland wirft er ein Vorgehen vor, „das sich mit den Anforderungen eines demokratischen Rechtsstaats nicht in Einklang bringen lässt“. So habe der gebrochen deutsch sprechende Vernehmungsbeamte seine Aussagen mit „Google-Translate“ ins Griechische übertragen.

In mehreren Briefen haben Keller und seine Frau die Bundesregierung um Hilfe gebeten. Die deutsche Botschaft in Athen schickte eine Konsularbeamtin ins Gefängnis. Man setze sich für die „Beschaffung eines Bettes und die „Einleitung einer physiotherapeutischen Behandlung“ des Verurteilten ein, schrieb das Auswärtige Amt dem deutschen Beamten im Ruhestand, der unter Rückenschmerzen leidet. Keller werde jedoch „um Verständnis“ dafür gebeten, dass „aufgrund der Unabhängigkeit der Justiz“ das Auswärtige Amt „keinen Einfluss auf das Verfahren“ gegen ihn nehmen könne.

Auf Nachfrage der taz bestätigt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes zwar, dass der Fall bekannt sei. Über eine „konsularische Betreuung“ könne die Unterstützung des Verurteilten jedoch nicht hinausgehen. Die Unabhängigkeit der Justiz sei nun mal ein wichtiger Grundsatz der EU-Mitgliedstaaten.

War’s das? Ansonsten scheut sich Deutschland bekanntlich nicht, in Griechenland Einfluss auszuüben. Das gilt nicht nur für die Finanzpolitik, sondern auch für die Flüchtlingsfrage. 64 deutsche Bundespolizisten sind an griechischen Flughäfen, an den See- und Landgrenzen des EU-Staates im Einsatz, um Flüchtlinge ohne Papiere aufzuhalten – und um Schlepper zu bekämpfen. Warum sollte man sich da wegen des rabiaten Urteils gegen einen Schlepper einmischen, auch wenn der Verurteilte ein deutscher Ruheständler ist? Ist ein solches Urteil nicht ein willkommener Baustein beim „Schutz der EU-Außengrenze“?

10 Jahre Haft pro Migrant

In Griechenland ist die Bestrafung von Schleppern in den vergangenen zehn Jahren mehrfach verschärft worden, zuletzt im April 2014. Danach können etwa Bootskapitäne mit bis zu zehn Jahren Haft je eingeschleustem Migrant bestraft werden. Urteile zu 20, 50 oder mehr Jahren Haft sind seitdem gang und gäbe.

„Das soll der Abschreckung dienen,“ sagt der in Griechenland lebende Rechtsanwalt Achim Rollhäuser. „Mehr als 1.000 als Schlepper verurteilte Personen sitzen in griechischen Gefängnissen. Das ist die zweitgrößte Gefängnispopulation. Nur wegen Drogendelikten sitzen mehr Leute ein.“

In Deutschland gelten vier Jahre Haft für Schlepperei als harte Strafe. Bernd Keller wäre für eine mit seinem Verhalten vergleichbare „Tat“ – wenn er etwa mit seinem Boot eine Flüchtlingsfamilie von der Schweiz sicher über den Bodensee nach Friedrichshafen gebracht hätte – vermutlich zu einer geringen Bewährungsstrafe verurteilt worden.

Wer hierzulande mehr als zehn Jahre hinter Gittern landet, muss schon Mörder, Serienvergewaltiger oder etwas Ähnliches sein. Der Attentäter etwa, der aus Fremdenhass die heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ermorden wollte und mit einem Messer lebensgefährlich am Hals verletzte, wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt. Ein Fluchthelfer wie Bernd Keller wird in Griechenland bestraft wie ein Gewalttäter in Deutschland.

Das Ehepaar kann nicht fassen, dass sein Leben von der „kompromisslosen Schlepperbekämpfung“ der EU ruiniert wurde. Die Frau wartet im hessischen Riedstadt, korrespondiert verzweifelt mit dem Anwalt in Griechenland und dem Auswärtigen Amt in Berlin und telefoniert täglich mit ihrem Mann im Gefängnis.

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