Politologe über Sozialdemokratie: „Die SPD hat ein Profilproblem“

Matthias Micus schildert das Problem, mit dem die SPD – nicht nur in Berlin – zu kämpfen hat: Sie weiß nicht mehr, was Sozialdemokratie bedeutet.

Sigmar Gabriel und Michael Müller beugen sich zueinander und lächeln verhalten

Spitzengenossen Sigmar Gabriel und Michael Müller freuen sich: 21,6 Prozent! Foto: dpa

taz: Die SPD hat bei der Berliner Wahl am Sonntag so schlecht abgeschnitten wie seit 1920 nicht mehr. Welche Erklärung haben Sie für dieses desaströse Ergebnis?

Matthias Micus: Die Regierung hat insgesamt in Berlin nicht gut gearbeitet. Dafür sind die beiden Koalitionsparteien abgestraft worden. Hinzu kommt, dass die SPD einen schwachen Spitzenkandidaten hatte. Gerade in einer Situation, in der sich die großen Parteien inhaltlich nur noch sehr unklar unterscheiden, kommt dem Führungspersonal eine wachsende Bedeutung für den Wahlausgang zu. Wir sahen diesen Effekt bei anderen Landtagswahlen in diesem Jahr. Als Nachfolger des als schillernder Halodri und Partypolitiker verschrienen Klaus Wowereit war mit Michael Müllers Amtsantritt das Versprechen verbunden, dass er die großen Probleme der Stadt löst. Müller galt als wenig charismatischer, doch solider und seriöser Politiker, der, wie es so schön heißt, die Dinge anpackt. Gerade das hat er jedoch als Regierender Bürgermeister nicht geschafft, wofür exemplarisch die chaotischen Verhältnisse vor dem LAGeSo stehen. Salopp gesprochen: Ein Problemlösungspolitiker, der die Probleme nicht löst, bekommt Probleme.

Die Forschungsgruppe Wahlen hat allerdings analysiert, dass die Spitzenkandidatur von Michael Müller ein zentraler Grund war, weshalb die SPD überhaupt noch stärkste Kraft geblieben ist, weil seine Beliebtheitswerte deutlich über denen seines CDU-Herausforderers Frank Henkel lagen. Wie passt das zusammen?

Das ist eine Frage des Vergleichsmaßstabs. Um es mal so zu sagen: Unter Blinden ist der Einäugige König. Es ist tatsächlich so, dass er im Vergleich zu dem christdemokratischen Spitzenkandidaten für seine Partei einen Gewinnfaktor darstellte – aber nur, weil Henkel ein noch größerer Malus war. Verglichen mit Wowereit im Jahr 2011, Malu Dreyer im März 2016 in Rheinland-Pfalz und Erwin Sellering zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern haben dagegen nur wenige Wähler aufgrund des Kandidaten Müller für die SPD gestimmt.

Dann ist also Müller für das schlechte Abschneiden der SPD verantwortlich?

Das wäre zu einfach. Verantwortlich ist vielmehr ein Dreiklang: ein schwacher Kandidat, eine schlechte Regierungsbilanz und die generellen Profilprobleme der Sozialdemokratie. Letztere sind entscheidend, freilich nicht auf das Land Berlin beschränkt. Das erklärt, weshalb die SPD selbst dann von der Beteiligung an Regierungen nicht mehr profitiert, wenn diese eine als mehrheitlich gut bewertete Arbeit leisten und die SPD wichtige Entscheidungen initiiert hat, auf der Bundesebene etwa die Rentenpolitik, die Mietpreisbremse und der Mindestlohn. Jenseits aller Einzelmaßnahmen muss ein klares, darstellbares und über die Tagespolitik hinausreichendes sozialdemokratisches Profil erkennbar werden. Sicher, Parteien müssen lernfähig bleiben, Flexibilität und ein gutes Gespür für Stimmungen sind wichtige Eigenschaften von Spitzenpolitikern. Wo aber Kurssprünge die Regel sind und Wechsel erratisch wirken, ist Verlässlichkeit gefragt, besser: Überzeugung von der eigenen Sache. Bis in ihre Spitze hinein wirkt die SPD aber weder von sich selbst überzeugt, noch scheint sie zu wissen, was „sozialdemokratisch“ im Kern eigentlich bedeutet.

39 Jahre, ist Akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Der Politikwissenschaftler ist unter anderem Mitherausgeber von „Genossen in der Krise: Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand“ (2011) und Mitverfasser des Buches „Von Beruf: Politiker. Bestandsaufnahme eines ungeliebten Stands“ (2013).

Warum verliert die SPD besonders in jenen Wählerklientelen, die früher als klassisches sozialdemokratisches Wählerpotential galten, also bei den Arbeitern und Arbeitslosen?

Die Entfremdung zwischen den sozialdemokratischen Parteien und ihrer alten Kernwählerschaft ist eine Folge nicht zuletzt der Politik des „Dritten Weges“, den Mitte der 1990er Jahre zunächst die britische Labour Party unter Tony Blair eingeschlagen hatte. Die Sozialdemokratie versteht sich seither nicht mehr als Interessenvertreterin der Modernisierungsverlierer des unteren gesellschaftlichen Drittels, die auf Transferleistungen angewiesen sind und sich von der Zukunft wenig versprechen. Stattdessen orientiert sie auf die „Leistungsbereiten“, die hart arbeiten, Steuern zahlen und zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen. Auf die Spitze getrieben wurde dieses Verständnis in Deutschland im Jahr 2003 mit der Agenda 2010. Seit diesem Zeitpunkt erleidet die SPD bei Wahlen unter Arbeitern und Arbeitslosen tiefgreifende Verluste. Davon profitierten zunächst kurioserweise bei mehreren Landtagswahlen die Christdemokraten, Jürgen Rüttgers zum Beispiel, der sich 2005 in Nordrhein-Westfalen zum „Arbeiterführer“ ausrufen konnte. Aber die CDU schaffte es auch nicht, diesen Wählersegmenten attraktive politische Angebote zu machen. In der Folge stieg deshalb der Nichtwähleranteil in diesen Gruppen.

Und jetzt sind die zur AfD weitergezogen? In Berlin ist die AfD die stärkste Partei bei den Arbeitern und Arbeitslosen geworden, deutlich vor der SPD.

Durch das Aufkommen der AfD, und vor allem seit der Abspaltung des Lucke-Flügels, gibt es nun eine rechtspopulistische Partei, die sich zumindest rhetorisch der Sorgen, Probleme und Ängste dieser Gruppe annimmt und sie zur Stimmabgabe mobilisiert. Mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz ist die AfD schon zuvor bei allen Landtagswahlen in Deutschland in diesem Jahr bei Arbeitern und Arbeitslosen die stärkste Partei geworden. Das gilt für Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt ebenso wie für Mecklenburg-Vorpommern und jetzt auch Berlin. Europaweit sehen wir eine solche Entwicklung hin zu rechtspopulistischen Parteien übrigens schon sehr viel länger.

Aber warum geht diese Klientel nach rechts und nicht nach links, was auf den ersten Blick logischer erscheinen würde?

Der Eindruck, dass die Arbeiterschaft politisch links steht, ist in gewisser Weise immer schon ein Irrtum gewesen. Man muss da differenzieren: In ökonomischen Fragen ist die Arbeiterschaft traditionell und bis heute links. Kulturell waren Arbeiter, Arbeitslose und sozial Schwache dagegen immer schon eher national-konservativ, das heißt autoritär, homogenitätsfixiert, zuwanderungsfeindlich. Ende des 19. Jahrhunderts waren es die sogenannten Ruhrpolen, die enorm kritisch beäugt wurden, später andere Gruppen, wie die Italiener oder Türken. Jetzt sind es die Flüchtlinge und insbesondere die Muslime.

Wie kann dieses Klientel zurückgewonnen werden?

Für linke Parteien bedeutet das, sie müssen den Diskurs auf ökonomische Fragen konzentrieren. Dann können sie als Sachwalter der ökonomischen Interessen der sozial Schwächeren fungieren, dann ist das untere Drittel ein natürliches Stimmenpotential linker Parteien. Wenn aber in den unteren sozialen Milieus nicht Ökonomisches sondern Kulturelles im Vordergrund steht, sind sie eine prädestinierte Wählerklientel für rechtspopulistische Parteien, die versprechen, Grenzen zu schließen, Fremde fernzuhalten, kulturelle Homogenität zu bewahren.

Was folgt daraus für die SPD?

Nach jeder Wahl wird gesagt: Wir haben verstanden. Das reicht selbstverständlich nicht. Mal an dieser, mal an jener Schraube zu drehen, führt zu nichts und verpufft letztlich wirkungslos. Es braucht eine Entscheidung für eine perspektivische Leitlinie, die klar erkennbar ist, sich auch in den Einzelmaßnahmen widerspiegelt, ohne darin aufzugehen, und verlässlich beibehalten wird. Wenn die SPD wieder vorankommen will, braucht sie wieder eine sozialdemokratische Erzählung für die Partei. Einerseits. Andererseits braucht es eine parteiübergreifende Erzählung für ein linkes Bündnis. Ein solches Bündnisprojekt muss allerdings ernsthaft gewollt und gründlich vorbereitet werden, es braucht eine inhaltliche Begründung und orientierende thematische Projekte. Ein Vorbild könnte das sozial-liberale Bündnis zwischen der SPD Willy Brandts und der FDP Walter Scheels darstellen, das in seinen Anfängen als historisches Projekt konzipiert war und in den frühen Jahren einen leidenschaftlichen gesellschaftlichen Aufbruch verkörperte.

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