Kommentar Kretschmann in der „Zeit“: Der Homo als Egoist

In einem Gastbeitrag bedient sich der Grüne Winfried Kretschmann des klassischen Repertoires homophober Propaganda von rechts.

Die Haare von Winfried Kretschmann schauen bei einer Wahl hinter einem Sichtschutz hervor

Brett vorm Kopf, Herr Kretschmann? Foto: dpa

Winfried Kretschmann, Grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg, äußert sich zur Lage der Nation – und macht große Teile seiner Partei damit wütend. In einem Gastbeitrag für die Zeit schreibt er dies und das über den bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft, über die AfD, über die Versäumnisse seiner eigenen Partei. Und er fragt sich, wie mit den Herausforderungen umzugehen sei. Einiges davon ist sinnvoll, einiges sinnfrei und manches schlicht ätzend.

Bemerkenswert ist besonders ein Absatz, in dem Kretschmann sich über die Lebensgestaltung von Menschen Gedanken macht. Um die Aussagen zu verstehen, sei hier ausführlich zitiert:

„Außerdem müssen wir deutlich machen, dass die neuen Freiheiten in der Lebensgestaltung ein Angebot und keine Vorgabe sind. (…) Es geht darum, dass jeder nach seiner Fasson leben kann und nicht darum, traditionelle Lebensformen abzuwerten oder die Individualisierung ins Extrem zu treiben. Individualismus darf nicht zum Egoismus werden, sonst wird gesellschaftlicher Zusammenhalt unmöglich. So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so.“

Individualismus darf nicht zum Egoismus werden. Ja, kann man so sehen. Kretschmann schließt allerdings an mit einem Lob der „klassischen Ehe“, lässt „bestehend aus Mann und Frau“ freundlicherweise weg – endet jedoch mit dem Wowereit-Zitat und zeigt damit deutlich, wer gemeint ist. Die Homos.

In diesen Sätzen schwingt allerlei mit. Ein „Nun ist aber auch mal gut mit diesem ganzen Homo-Zeugs“. Und ein „Die Ehe besteht aus Mann und Frau“. Weiter lässt sich daraus lesen, dass Homosexuelle, Transsexuelle, Asexuelle und alle anderen, die nicht die klassische Ehe bevorzugen, nicht nur Individualisten sondern gar Egoisten sind. Und dass sie sich frei entschieden haben, etwa homosexuell zu sein – und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt unmöglich machen.

Kretschmann bedient sich damit dem klassischen Repertoire homophober Propaganda von rechts. Homos, die die „Verschwulung“ der Gesellschaft vorantreiben wollen, Egoschweine sind, keine Kinder in die Welt setzen (sollen). Dutzendfach gehört von Elsässer und Pirincci, von Evangelikalen in Baden-Württemberg – und von der AfD. Hat nicht nur die Linkspartei derzeit ein Problem mit der Abgrenzung nach rechts?

Herr Kretschmann, nur nochmal zur Klarstellung: Wir Homosexuelle nehmen euch nichts weg. Wir werten euch nicht ab. Wir machen niemanden schwul oder lesbisch. Manche von uns sind egoistisch, viele nicht. Manche sind individuell, viele Mainstream. Manche wollen heiraten, viele nicht. Und niemand von uns hat sich seine Homosexualität ausgesucht. Wenn das ginge: sich frei zur sexuellen Identität zu entscheiden, würden sich viele erneut dafür entscheiden. Und das ist ziemlich gut so.

Nachtrag: Donnerstagnachmittag veröffentliche Winfried Kretschmann auf Facebook eine längliche Klarstellung. Er schreibt darin unter anderem, dass er es bedauere, „dass eine Passage (…) offenbar für einige Menschen missverständlich war“ und spricht sich für die Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare aus. Genau darauf habe er mit dem Wowereit-Zitat anspielen wollen.

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Jahrgang 1984, hat Journalistik und Soziologie in Leipzig studiert. Seit 2009 ist er bei der taz. Nach seinem Volontariat war er Redakteur in der sonntaz, bei taz.de, bei taz2/Medien und im Inlandsressort. Jetzt Ressortleiter der wochentaz.

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