Die eine Frage
: Ich töte noch ein Huhn

Wie viel landesgrünen Spirit brauchen die Bundesgrünen 2017?

Peter Unfried ist taz-Chefreporter

Die Grünen hätte man schon längst auflösen sollen, sagt der Philosoph Richard ­David Precht. Das habe er schon Ende der 90er gesagt. Sie hätten nichts erreicht. Es ist Anfang dieser Woche, Precht sitzt in einer Düsseldorfer Kneipe. Er gehört zu dem exklusiven Kreis der deutschen Intellektuellen, die die sozialökologische Transformation und die sozialen Verwerfungen der Digitalisierung denken können, also politisch. Man muss ihn sehr ernst nehmen.

Wenn man dann noch beim Parteitag der Bundesgrünen in Münster ist und emanzipa­tions­parodistische Büttenreden hört oder pädagogische Moralpoesie von Schülersprechern, wenn man die aggressive Intoleranz einiger Grüner erlebt und das Fehlen von ganz normalem Anstand gegenüber Andersdenkenden, dazu groteske Populismen (etwa das lächerliche Wording „Superreiche“), dann könnte man schon ins Grübeln kommen, ob diese Partei tatsächlich den Schuss gehört hat. Für die Armen, gegen die Moralarmen, schön getrennt, ohne seinen Brecht verstanden zu haben, dabei immer paternalistisch, aber das selbstverständlich quotiert? „Das Böse externalisieren“, um mit Giovanni di Lorenzo zu sprechen, das reicht angesichts der Komplexität der Gegenwart nirgendwo hin. Das ist das eine.

Aber es gibt noch ein anderes. Und das ist vielleicht zukunftsfähig.

Nach Münster versuchen einige Medien durchzusetzen, die Bundesgrünen seien jetzt „auf Linkskurs“ und hätten sich von Baden-Württembergs regierendem Ministerpräsidenten Kretschmann „abgewandt“. Letzteres stimmt schon deshalb nicht, weil sie sich ihm nie zugewandt und die offensichtliche Frage gar nie zugelassen hatten, wie man auch führende Partei wird, was man nach eigenem Checker- und Weltrettungs-Anspruch ja sein müsste. Es stimmt auch deshalb nicht – das ist meine These, die ich zur Diskussion stelle –, weil der entscheidende Antagonismus eben nicht zwischen „Linken“ und „Realos“ besteht, sondern zwischen der daueroppositionellen Bundespartei und den in den Ländern mitregierenden Grünen. Das ist eben nicht nur Kretschmann. Das sind elf von sechzehn Landesverbänden. Ihre Ressource ist nicht Misstrauen, sondern Vertrauen. Dies bei den Leuten nachhaltig zu gewinnen, darum geht es jeden Tag. Die Schizophrenie besteht darin, dass teilweise dieselben Leute in Ländern verantwortungsethisch versuchen, das Beste aus der Realität zu machen, aber beim Bundesparteitag ins egozentrierte Gesinnungs-Nirvana streben.

Richard David Precht hat in seinem neuen Buch, „Tiere denken“, eine schöne Geschichte, in der ein Vegetarier von einem anderen Menschen vor die Wahl gestellt wird, ein vor ihm stehendes Brathuhn zu essen – „… oder ich töte noch ein Huhn“.

Was tun? Als bundesgrüner Oppositioneller – das ist jetzt eine Unterstellung – würde der Grüne auf seinem ethischen Prinzip bestehen und lang und breit erklären, warum der zweite Todesfall nicht seine Schuld ist. Das hilft dem Huhn aber nichts. In seiner Inkarnation als Landesgrüner wird der Vegetarier das bereits tote Huhn essen, damit das zweite lebt.

Das ist der Punkt, an dem jetzt auch größere Teile der offenen und liberalen Gesellschaft stehen. Lange konnte man seine private Moral mit dem Politischen verwechseln. Und sich ­damit schön raushalten. Alles übel.

Jetzt nicht mehr. Die Übernahme der Verantwortung für das lebende Huhn markiert den Unterschied zwischen dem Privaten und dem Politischen. Und die Erkenntnis, dass es darum geht, sich den Arsch für das kleinere Übel aufzureißen. Die bisher ignorierte Frage ist, ob dieser Spirit, den ich den Landesgrünen unterstelle, auch der Spirit des Bundestagswahlkampfs sein soll und kann. Und wer ihn repräsentiert.