Computerunterstützung im Schach: Ein sehr komplexes Memory

Nicht nur die Finalisten der Schach-WM bedienen sich der Hilfe von Computer-Datenbanken. Diese haben das Spiel berechenbarer gemacht.

Computer gegen Mensch – hier durchexerziert mit dem Chessbase-basierten „Deep Fritz“, der 2006 gegen Wladimir Kramnik (rechts) antrat Foto: reuters

Spannung schon bei den ersten Zügen? Viele Internetzuschauer klicken sich erst in die laufende WM-Partie zwischen Magnus Carlsen und Sergei Karjakin ein, wenn die Eröffnungsphase abgeschlossen ist. Die Fans kommen sich kaum wie in der gerade in den Kinos laufenden Dokumentation „Magnus“ vor, sondern eher wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Alles schon dagewesen!

Für Runde vier in New York spuckt eine Onlinedatenbank nach dem zehnten weißen Zug noch 1.756 Partien aus, die bis dahin genauso gespielt wurden. Die siebte WM-Begegnung, die am Sonntagabend mit einem erneuten Remis zum Zwischenstand von 3,5:3,5 endete, hatte bis zum zehnten Zug 187 Vorläufer.

Im Vorfeld der Partie hatten die Sekundanten um den dänischen Theorie-Experten Peter Heine Nielsen ihrem Chef Carlsen für diese Begegnung ein Abspiel empfohlen, das bislang nur neun Spieler erprobten. Die bereits 1925 von Savielly Tartakower in Paris am Brett ersonnene Variante prüften Nielsen und Co. mit ihren Schachprogrammen auf Herz und Nieren. Erkennen die Rechner keine Nachteile, kann Carlsen die wasserdichte Eröffnung gegen Karjakin anwenden. Der Russe versucht natürlich umgekehrt genauso mit seinen großmeisterlichen Helfern, den Norweger zu überraschen.

Schach hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert enorm gewandelt. Der Hamburger Software-Guru Matthias Wüllenweber erfand Ende der 80er Jahre die Datenbank „Chessbase“. Vor wenigen Tagen kam die 14. Version auf den Markt. Kunden haben damit Zugriff auf rund acht Millionen relevante Partien. Davon wurden 4,1 Millionen mit dem Königsbauern-Zug nach e4 eröffnet.

Nicht nur Carlsen ist mit seinen 1.890 verzeichneten Partien „gläsern“. Auch Amateure sind leichter ausrechenbar. „Chessbase“ erstellt auf Knopfdruck ein Eröffnungsdossier. Selbst von Vater Carlsen, Henrik, finden sich 164 Partien in der Datenbank. So gab der starke Amateur 2007 gegen seinen 16-jährigen Sohn bei der Arctic Chess Challenge im heimischen Tromsö nach 37 Zügen auf.

Meister des Lavierens

Spitzenschach ist inzwischen ein Kampf Computer gegen Computer. Mehrere Programme laufen rund um die Uhr und prüfen Varianten, die die Großmeister später am Brett nur noch memorieren müssen – allerdings ein äußerst komplexes „Memory“, denn Millionen von Zügen gilt es abzuspeichern. Angeblich soll es mit 10 hoch 120 Möglichkeiten geben, eine Schachpartie zu beenden, mehr als Atome im Universum (10 hoch 80) existieren.

Die Kunst im königlichen Spiel besteht heutzutage darin, eine „spielbare Stellung“ ohne große Nachteile zu erhalten. Carlsen ist ein Meister darin. Er laviert selbst in langweiligsten Positionen geduldig. Allerdings war das geistige Fracking in New York bisher wenig erfolgreich, weil Karjakin trotz schlechterer Eröffnungsvorbereitung jede Stellung gekonnt verteidigte.

Die Computer sind Segen und Fluch zugleich: Carlsen gesteht, dass er Angst vor den Erkenntnissen der Rechner hat: „Ja, absolut!“ Einerseits kann nun jeder mit ihnen lernen und sich verbessern, ohne die besten russischen Trainer zu haben. Die beiden WM-Finalisten sind Vertreter der neuen Generation, die mit den Programmen aufgewachsen sind. Dass die beiden letzten Weltmeister aus Indien (Viswanathan Anand) und Norwegen kamen, ist kein Zufall. Als noch der 1966 in Belgrad gegründete „Informator“ als halbjährlich erscheinende Theoriebibel galt, hüteten die Sowjets ihre Eröffnungsgeheimnisse wie einen Schatz.

Wider den „Remistod“

Andererseits sind viele Amateure genervt von der Computerisierung des Spiels. Ohne stundenlange Eröffnungsvorbereitung auf den nächsten Gegner muss man in Turnieren eklatante Nachteile befürchten – die Kontrahenten kennen die alten, längst vergessenen Partien meist besser als der einstige Schöpfer. Und sie folgen dann Ratschlägen namhafter Asse, ohne selbst viel Kopfarbeit beisteuern zu müssen – bis der Rivale eine zweifelhafte „Neuerung“ ersinnt, die direkt in die Niederlage führen kann.

Die US-Legende Bobby Fischer, Weltmeister von 1972, prophezeite schon zu Lebzeiten seinem Sport den „Remistod“, weil alles ausanalysiert sei. Er erfand daher „Fischer Random Chess“. Wegen der 960 möglichen Grundstellungen, die nach bestimmten Vorgaben (ein Läufer steht auf einem weißen Feld, einer auf einem schwarzen etc.) ausgelost werden, heißt es heutzutage weniger sperrig „Chess960“.

Weil die Vorbereitungsfron angesichts der unbekannten Startaufstellung keinen Sinn mehr macht, wächst die Popularität von „Chess960“: Einfach ans Brett hocken, loslegen und der Bessere gewinnt – nicht der besser vorbereitete. Endlich geht es wieder Mann gegen Mann.

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