Bundeswehr im Einsatz gegen den IS: Die Schuldfrage

700 Mal starteten deutsche Tornados vom türkischen Incirlik aus. Wie viele Zivilisten auf Basis ihrer Daten getötet wurden, weiß die Regierung nicht.

Tornado im Abendlicht von Incirlik

Die tun nix, die machen nur Fotos: deutscher Tornado in Incirlik Foto: Bundeswehr/Oliver Pieper/dpa

BERLIN taz | Wie viele Unschuldige in der Nacht auf den 19. Juli 2016 tatsächlich starben, ist umstritten. Bis zu 24, sagt die US-geführte Militärkoalition. Mindestens 73, sagt Amnesty International. Mindestens 124, sagt ein Reporter der Nachrichtenseite Syria Direct. Zu viele, so oder so.

Eigentlich sollten die Raketen in dieser Julinacht nur die rund hundert Kämpfer des IS treffen, die sich mit ihren Fahrzeugen im nordsyrischen Tokhar verschanzt hatten. Die Einsatzplaner gingen davon aus, dass längst alle Einwohner des Dorfes nahe der Stadt Manbidsch geflohen waren. Das war aber ein Irrtum, und so töteten die Piloten der westlichen Kampfjets in dieser Nacht nicht nur die Dschihadisten, sondern auch Dutzende Zivilisten.

Mit deutscher Hilfe?

Seit genau einem Jahr fliegen sechs Tornados der Bundeswehr inzwischen Aufklärungseinsätze über Syrien und dem Irak. 698 Mal sind die Flugzeuge mittlerweile von der Luftwaffenbasis im türkischen Incirlik gestartet, um mit ihren Infrarotkameras Gebiete des IS abzufilmen. Mit Hilfe der Bilder bereitet die internationale Koalition der „Operation Inherent Resolve“ (deutsch: Operation Innere Entschlossenheit) ihre Luftangriffe auf IS-Stellungen vor. Bereits seit Ende 2015 unterstützt die Bundeswehr die Allianz zudem mit einem Tankflugzeug.

Deutschland hat zum Erfolg gegen den IS beigetragen

Mit dem bisherigen Ergebnis der Operation ist die Bundesregierung zufrieden. „Die Terrororganisation IS hat seit Dezember 2015 bereits deutliche Gebietsverluste in Syrien und im Irak hinnehmen müssen. Zu diesem Erfolg der internationalen Allianz gegen die Terrororganisation IS haben auch die durch Deutschland bereitgestellten Aufklärungs- und Luftbetankungsflüge beigetragen“, sagt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.

Was die Bundesregierung allerdings nicht sagen kann: Wie viele Luftangriffe die alliierten Staaten auf Basis der deutschen Aufklärungsdaten durchgeführt haben, wie viele IS-Kämpfer sie dabei trafen – und wie viele Zivilisten.

Laut US-Angaben warf die Militärkoalition im Jahr 2016 insgesamt 30.743 Bomben und Raketen über dem Einsatzgebiet ab. Die Angriffe sind präziser als die der russischen Luftwaffe. Das Onlineprojekt Airwars.org, dessen Mitarbeiter regelmäßig Meldungen über Fehlschläge auswerten, zählte allein für Januar 2016 mindestens 713 zivile Opfer der Russen, dagegen nur 52 des Westens.

Dennoch zielt auch die Militärkoalition regelmäßig daneben, über das ganze Jahr gesehen liegt die Zahl ziviler Opfer bei mindestens 142 (offizielle Angaben) oder gar bei 1.237 und mehr (Airwars).

Bei wie vielen davon die deutschen Luftbilder eine Rolle spielten? Man führe „keine über die durch die Operation Inherent Resolve veröffentlichten Zahlen hinausgehenden eigenen Statistiken“, heißt es auf diese Frage aus dem Verteidigungsministerium. Die Bundeswehr liefere zwar die Aufklärungsdaten, sei aber nicht beteiligt, wenn die Alliierten die konkreten Angriffsziele auswählen. Sprich: Was genau mit den deutschen Daten passiert, weiß die Regierung nicht.

So ist das im Luftkrieg: Fehlschläge lassen sich reduzieren, aber auch durch strenge Regeln nie ganz vermeiden

„Die wollen das auch gar nicht wissen, damit sie sich die Hände nicht schmutzig machen und Diskussionen in Deutschland vermeiden“, glaubt der Linken-Abgeordnete Alexander Neu. Die Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger sagt: „Ich hätte zumindest erwartet, dass die Regierung sicherstellt, auch nach Abgabe der Bilder in die Entscheidungsprozesse und die Evaluation eingebunden zu sein. Immerhin trägt die Bundeswehr in relevantem Umfang zur Operation bei.“

Konkret sieht der deutsche Beitrag so aus: Ein deutscher Offizier sitzt im Luftwaffenhauptquartier der Militärkoalition in Katar und hört sich an, von welchen Orten und Regionen die Allianz in der folgenden Woche Luftbilder benötigen. Sollte ein Aufklärungswunsch dem Mandat des Bundestags widersprechen, weil sich im Zielgebiet beispielsweise keinerlei IS-Truppen bewegen, sondern nur kurdische Kämpfer, legt er ein Veto ein. Ansonsten geht der Auftrag nach Incirlik.

Von dort aus fliegen die Tornadopiloten die gewünschten Gebiete nach und nach ab. Die Kameras am Rumpf der Flugzeuge schießen hochauflösende Bilder, zurück in Incirlik werden diese von speziell geschulten Bildauswertern der Bundeswehr bearbeitet. Sie markieren unter anderem, an welchen Stellen sie IS-Kämpfer vermuten und an welchen Stellen zivile Einrichtungen wie Schulen oder Kirchen. Am Ende prüft ein Offizier noch einmal, ob die Bilder mit dem Mandat kompatibel sind. Dann schickt er sie ins Hauptquartier nach Katar.

Lage am Boden kann sich schnell verändern

Dort planen Militärs der Partnerstaaten dann die eigentlichen Luftangriffe – eben ohne die Deutschen. Die Soldaten nutzen dafür nicht nur die Bundeswehrdaten sondern auch Aufklärungsbilder weiterer Nationen, Geheimdienstinformationen oder Berichte verbündeter Kämpfer auf dem Boden. Je mehr Informationen, so ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, desto präziser die Zielplanung: Gerade die deutschen Bilder dienten dazu, „zivile Infrastruktur von militärischen Zielen zu unterscheiden, um so mögliche Kollateralschäden zu begrenzen“.

Die Grünen-Abgeordnete Brugger bezeichnet das als „halbe Wahrheit“. Gute Aufklärung könne die Opferzahl zwar reduzieren. Andererseits sei „Aufklärung die Grundlage aller Bombardements und natürlich kommt es bei Bombardements auch zu zivilen Toten.“ Der Linken-Politiker Neu weist auf den Zeitfaktor hin: „Bis die Aufklärungsbilder der Tornados in der Datenbank sind, vergehen Stunden. Die Lage am Boden kann sich in der Zwischenzeit verändert haben.“

Was das bedeuten kann, zeigt ein Beispiel aus dem März 2015. Die deutschen Tornados waren damals noch nicht im Einsatz, die Bundeswehr trifft also keine Verantwortung. Der Fall ist aber aufschlussreich, da die US-Luftwaffe danach ausnahmsweise einen 59-seitigen Untersuchungsbericht veröffentlichte.

Agnieszka Brugger

„Ich hätte zumindest erwartet, dass die Regierung sicherstellt, auch nach Abgabe der Bilder in die Entscheidungsprozesse und die Evaluation eingebunden zu sein. Immerhin trägt die Bundeswehr in relevantem Umfang zur Operation bei.“

Demnach schickte eine Frau aus Mossul im April 2015 eine E-Mail an die US-Armee: Damit ihr Auto, ein schwarzer Kia Sorrento (Baujahr 2011) nicht vom IS konfisziert würde, wollte sie diesen am 13. März nach Bagdad überstellen lassen. Dort sei der Wagen aber nie angekommen: Auf halbem Weg sei er an einem IS-Checkpoint von der Rakete eines ausländischen Kampfflugzeugs getroffen worden. Die fünf Passagiere seien verbrannt, für das zerstörte Auto bitte sie um Entschädigung.

Tatsächlich bombardierten zwei US-Flugzeuge an besagtem Tag einen Checkpoint in der Region Hatra (siehe Karte). Die Einsatzplaner hatten zuvor aus nicht näher genannten Quellen erfahren, dass der IS eine antike Ruinenanlage in unmittelbarer Nähe als Ausbildungsstätte nutzt. Deshalb schickten sie die zwei Maschinen in Richtung des Kontrollpunkts.

Vor dem Angriff kreisten die Piloten eine Stunde lang über ihrem Ziel. Über ihre Bordkamera registrierten sie nach einer Weile ein schwarzes Auto, das den Checkpoint aber nicht passierte, sondern direkt davor am Straßenrand hielt. Der Wagen gehöre wohl zum IS, funkte einer der Piloten deshalb nach vierzig Minuten ins Hauptquartier nach Katar. Feuer frei, antwortete die Zentrale.

Nach der E-Mail aus Mossul schaut sich ein US-Offizier die Aufnahmen der Bordkamera noch einmal an, vergrößert und in Zeitlupe. Er sieht, wie Sekunden vor dem Raketeneinschlag mindestens drei Personen aus dem Auto stürmten. Eine davon hatte einen auffallend kurzen Schatten. Vermutlich war dieser Mensch noch ein Kind.

Alle haben sich an die Vorschriften gehalten

Das offizielle Untersuchungsergebnis: Wahrscheinlich habe die Rakete tatsächlich Zivilisten getroffen. Den Piloten sei aber nichts vorzuwerfen, den Planern auch nicht. Sie hätten sich an geltende Vorschriften gehalten.

So ist das im Luftkrieg: Fehlschläge lassen sich reduzieren, aber nie ganz vermeiden, auch nicht durch strenge Regeln. Und in diesem Luftkrieg gelten strenge Regeln, zumindest auf dem Papier. US-Präsident Barack Obama hat einer Luftwaffe, die den Großteil der Koalitionsangriffe ausführt, von Anfang an besondere Zurückhaltung angeordnet. Für den Einsatz über Syrien und dem Irak erwähnt der Untersuchungsbericht die Zielvorgabe „non-combat victims (NCV) = 0“ – möglichst keine unbeteiligten Opfer machen. Zuletzt schrieb Obama im vergangenen Sommer in einer Präsidialverordnung: „Niedrige Zahlen ziviler Opfer tragen dazu bei, die Unterstützung von Partnerregierungen und Bevölkerungen zu erhalten.“

Ob sein designierter Nachfolger an dieser Verordnung festhält? Im Wahlkampf kündigte Donald Trump immer wieder an, er werde „die Scheiße aus dem IS herausbomben“. Macht er dieses Versprechen wahr, könnte auch die Zahl der zivilen Toten bald nach oben springen. Trotz der deutschen Aufklärungsbilder – oder mit deren Hilfe.

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