Elbphilharmonie

Das dreiwöchige Festival in der „Elphi“ wird mit einem ­ausgefuchsten Programm von Thomas Hengelbrock eröffnet

Der Saal verzeiht nichts

Kultur Unsere Autorin hat beide Augen zugedrückt und einen Konzertabend lang geprüft, ob das Klangwunder von Hamburg auch hält, was es verspricht

Alles lauscht dem Orchester Foto: Christian Charisius/reuters

von Regine Müller

HAMBURG taz | Das Jahr ist noch jung, aber dieses erste Groß­ereignis der Hochkultur dürfte, auch wenn die Documenta in Kassel noch bevorsteht, schwerlich zu toppen sein: Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen, mit maximaler Promidichte und aufs Äußerste kalkulierter Dramaturgie wird die einst als Millionengrab geschmähte Elbphilharmonie mit einem mehr als sechsstündigen Festakt-Konzert-Party-Event am Mittwochabend eröffnet. Die Stimmung vor Ort ist eindeutig: Freudig, bewundernd, staunend.

Wie ist das möglich, dass die über die endlose Pannengeschichte nie ermüdende Kritik am immer teurer werdenden Millionengrab so gründlich versickert ist, dass jetzt plötzlich überall nur eitel Freude herrscht? Ist es wirklich der Zauber der in der Tat imposanten, atemberaubenden, aber nicht protzigen Architektur, die wie ein von fernen Sternen herabgepurzelter Juwel über dem Wasser thront und jetzt schon ein Wahrzeichen ist? Oder bloß Marketing und perfekte Pressearbeit?

Organisatorische Präzisionsarbeit sind jedenfalls schon einmal Logistik und Sicherheit. Der Bereich um den Neubau ist großflächig abgesperrt, Polizei und Sicherheitspersonal stehen stramm, ein erster Zelttunnel mit Passkontrolle ist schon auf dem Vorplatz aufgebaut, dann muss man sich im Be­sucherzentrum akkreditieren, wieder Passkontrolle. Dann geht es durch den nächsten Schlauch ins Haus, mit einer Taschenkontrolle wie am Flughafen.

Doch es gibt keine Schlangen, denn alle Gäste sind gehalten, mindestens eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn fix und fertig im Haus zu sein. Die Karten kriegt man auf der sonst frei zugänglichen Plaza, nachdem man über die längste Rolltreppe Europas sanft nach oben schwebt. Dort hat sich eine Phalanx von Kameras aufgebaut, für Sekunden kann sich jeder prominent fühlen, während die echten Promis tapfer stillstehen und posieren.

Günter Netzer ist da, Christian Wulff, Fatih Akin, Uli Wickert, Armin Müller-Stahl, Wolf Biermann, die Schauspielerin Hannelore Hoger und auch zahlreiche Kollegen wie der Ex-Salzburg-Chef Alexander Pereira und der neue Chef Markus Hinterhäuser oder die Zürcher Tonhallen-Intendantin Ilona Schmiel geben dem Elphi-Intendanten-Kollegen Christoph Lieben-Seutter die Ehre. Es ist ein ganz großer Bahnhof, gesäumt von hanseatisch großbürgerlichem Understatement.

Die Stimmung ist festlich, stolz, gemessen. Aber es zieht sich. Die Politik steht im Stau. Bevor Angela Merkel, Norbert Lammert und Joachim Gauck endlich den Saal betreten, ist bis 19 Uhr eine weitere halbe Stunde vergangen, die manchem bereits seit 16.30 Uhr im Haus umherwandelnden Gast die Zeit dann doch arg lang werden lässt. Dabei gibt es genug zu sehen, der Ausblick in den schnell nachtschwarz sich verdunkelnden Hafen ist atemberaubend, die vielen Gänge sind verwirrend und intim, die Treppen allerdings steil, und wenn man zu Fuß vom 11. Stock, wo die Garderoben sind, bis in den 16. Stock – oberste Galerie – laufen will, braucht man Kondition und sollte schwindelfrei sein.

Jedes Hüsteln und Rascheln

Doch dann geht es endlich, endlich los. Thomas Hengelbrock, Chefdirigent des NDR-Orchesters, das sich nun stolz NDR-Elbphilharmonie-Orchester nennt, serviert zum Auftakt einen Schock: Die harten Paukenschläge von Beethovens Ouvertüre „Die Geschöpfe des Prometheus“ hämmern derart schroff in den Saal, als würden Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte verzischen. Es klingt bedrohlich trocken. Doch dann breitet sich doch erstaunlich mild ein weitgehend optimaler Mischklang aus, ungeheuer transparent, mit enormer Tiefenschärfe, klar und doch warm umhüllt. Stellenweise klingt es phänomenal. Jedenfalls in Etage 15, Block R, Reihe 2.

Im zweiteiligen Konzert, dessen Programmfolge bis zuletzt ein Geheimnis blieb, sind es dann vor allem die leisen Momente, die unter die Haut gehen: Wenn der Saal sich verdunkelt, und die Scheinwerfer sich auf Solo-Oboist Kalev Kuljus richten, der auf einem der Ränge Benjamin Brittens „Pan“ spielt. Oder wenn Countertenor Philippe Jaroussky – ebenfalls auf einem der elegant sich schwingenden Balkone auf halber Höhe – innig und wie ganz für sich Giulio Caccinis „Amarilli mia bella“ singt, begleitet nur von einer einsamen Barockharfe. Jarousskys fragile Counter-Stimme kommt in ähnlich großen Sälen wie der Elbphilharmonie schnell an ihre Grenzen. Aber hier kann er seinen Stimmeinsatz herunterfahren bis zum gefühlten Flüstern. Und schwingt sogar im gebremsten Piano mit Leichtigkeit bis in den letzten Winkel des Saals. Die klangliche Präsenz ist in der Tat atemberaubend.

Die klangliche Präsenz gilt allerdings in jeder Hinsicht. Hüsteln, Rascheln, Smartphone-Vibrationen hört man ebenso unbarmherzig wie jeden Wackler im Einsatz und jede kleinste Trübung der Intonation. Der Saal verzeiht nichts. Und zugleich mischt sich der Orchesterklang dann wieder auf derart magische Weise, dass er wie von oben zu kommen scheint, wo der seltsame Trichter herabragt wie ein Saugpilz. Wenn man die Augen schließt, sind die Klänge schwer zu lokalisieren und man kann eigentlich nur vage ahnen, wo sie erzeugt werden.

Tatsächlich ist der Abend ein dramaturgischer Parforceritt durch 400 Jahre europäische Musikgeschichte

So klingt es dort oben, in Block R. Aber ist es nun wirklich ein Klangwunder, das alle gleichermaßen beglückt – und die Musiker unter Perfektionsstress setzt? Die Meinungen der Kollegen, die in den insgesamt drei Pausen des Eröffnungsmarathons aufeinanderprallen, sind durchaus geteilt. Das Klangwunder ist offenbar eine Frage der Platzierung. In Block R ist es nahezu optimal. Kollegen von Block P auf gleicher Höhe monieren aber überzeugend, dass man die Streicher schlecht hört und die Bläser plärrig dominieren. Das kann natürlich auch an der Klangästhetik von Thomas Hengelbrock liegen, der aus der Schule der historischen Aufführungspraxis stammt und die Streicher gerne Non-Vibrato spielen und insgesamt schlank intonieren lässt.

Die Dramaturgie von Hengelbrocks ausgefuchstem Programm stellt die Möglichkeiten des Saals unter Beweis, fordert das Publikum aber mit harten Brüchen und einem Schwer­gewicht auf sperrigen Neu­tönern. Das ist mutig, glückt aber fast perfekt.

Mit einem Zitat aus Wagners „Parsifal“, „Zum Raum wird hier die Zeit“, ist das Ereignis ziemlich selbstbewusst und ziemlich hoch gegriffen übertitelt, und tatsächlich ist der Abend ein dramaturgischer Parforceritt durch 400 Jahre europäische Musikgeschichte. Von Benjamin Britten geht es ohne Pausen und bewusst nahtlos inszeniert weiter mit Werken des Zeitgenossen Henri Dutilleux, des frühbarocken Emilio de’ Cavalieri und dann in kühnen Sprüngen zwischen Moderne und Frühbarock bis hin zu Olivier Messiaen.

Im zweiten Teil folgt Wagners „Parsifal“-Vorspiel, in dem einige peinliche Wackler bei den Bläsern irritieren, dann die Uraufführung eines etwas ermüdet klingenden Auftragswerks von Wolfgang Rihm und endlich dann das Pflichtstück schlechthin: Beethovens „Ode an die Freude“, der letzte Satz der Neunten, der Hengelbrock, den emphatisch singenden Solisten und dem groß besetzten Chor ziemlich famos, wenngleich auch ein bisschen pauschal gelingt.

Bis zum Ende des Konzerts gegen 23 Uhr haben sich dann doch einige der 2.100 Plätze geleert, aber die geladenen Gäste und die zuvor per Los bestimmten Bürger lauschen überwiegend immer noch gespannt. Und zur Akustik dürfte es wohl 2.100 Meinungen geben. Überwiegend gute wohl.