Medienfreiheit

Heute vor 10 Jahren wurde Hrant Dink erschossen. Die ersten Texte auf unserem neuen Webportal taz.gazete beschäftigen sich mit ihm

Sprechen statt flüstern

Gedenken Zum Todestag von Hrant Dink schreibt einer seiner engsten Weggefährten, wie der Chefredakteur der Zeitung „Agos“ Tabus brach – und warum die Türkei heute einen wie ihn so bitter nötig hat

Chefredakteur Hrant Dink in der Redaktion der von ihm mitbegründeten Wochenzeitung „Agos“ Foto: Agos

von Aydın Engin

Zehn Jahre sind seit dem Mord an Hrant Dink vergangen. Eine lange Zeit, um dieses Ereignis langsam, aber sicher in die Tiefen unserer Gedächtnisse zu verdrängen. Dabei braucht die Türkei heute dringend Menschen wie Hrant Dink.

Ich spreche von einer Türkei, in der aus unterschiedlichen Lagern Feinde werden; die sich rasant von einer Demokratie zu einer Oligarchie entwickelt; in der Laizismus nicht mehr als Grundsatz, sondern als stechender Dorn gegen die Entwicklung zu einem neuen System wahrgenommen wird. Wie, wenn vor einer Notoperation gerufen wir: „Wir brauchen dringend Blut“, schwirrt mir die Forderung durch den Kopf: „Wir brauchen dringend einen Hrant Dink für dieses kranke Land!“ Warum?

Die armenischen Gemeinde in der Türkei hatte vor einem Jahrhundert noch Millionen Mitglieder – heute sind es noch 60.000. Diese Menschen leiden zwar schwer an den Wunden von 1915 – aber sie hatten sich verängstigt entschieden, jede Handlung des Staates zu dulden. Zu flüstern, statt zu sprechen.

Dink durchbrach das Tabu und sprach von 1915. Dass es heute in der Türkei junge Armenier gibt, die im Parlament, in den Medien, auf Veranstaltungen und Demonstrationen selbstbewusst ihre Gleichberechtigung deklarieren, verdanken wir zu einem Großteil seinem Mut. Als 1915 noch ein gewöhnliches Jahr war, der Monat April noch ein gewöhnlicher Monat und der 24. noch ein gewöhnlicher Tag, schrieb er: Am 24. April 1915 begann der Genozid an den Armeniern!

Das mit einen Satz das größte aller türkischen Tabus gebrochen wurde, erstaunte selbst viele in der armenischen Gemeinde. Die Regierung und türkische Nationalisten waren schockiert. Wenig später, am 12. Oktober 2006, verabschiedete die französische Nationalversammlung ein Gesetz, das die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe stellt. Dink verkündete in den türkischen Mainstream-Medien: „Ich werde nach Paris gehen und dort lauthals verkünden: ‚1915 wurde kein Genozid an den Armeniern verübt.‘ Der französische Staat wird mich für diese Äußerung bestrafen. Dann werde ich zurückkehren und in Ankara lauthals verkünden: ‚1915 wurde ein Genozid an der armenischen Bevölkerung verübt.‘ Diesmal wird mich der türkische Staat bestrafen. Vielleicht werden sie mich auf diese Weise brechen – aber das wird nichts an der Wahrheit ändern.“

Würde man fragen, was es zum Tabubruch braucht – ich würde vier Dinge aufzählen, die ich an Dink beobachtet habe. Mut, Selbstbewusstsein, Überzeugungskraft und Stärke. Es ist mutig, in einem Saal voller nationalistischer junger Türken zu sprechen – doch Dink stellte sich diesem Publikum. Gleich sein erster Satz war ein Schlag ins Gesicht: „Ihr glaubt an beidseitige Gefechte, wie es eure Geschichtsschreiber behaupten. Ich aber sage, dass in diesem Land ein Genozid an meinen Vorfahren stattgefunden hat. Und nur davon handelt mein Vortrag.“

Standing Ovations für Mut

Mit angehaltenem Atem lauschte das Publikum seinen unaufgeregten, aber bestimmten Worten. Dann gab es Standing Ovations. Wäre ich nicht selbst Zeuge dieser Veranstaltung, ich hätte Schwierigkeiten, das zu glauben. So wird es jetzt, wo ich diese Geschichte erzähle, meinen Zuhörern gehen.

Zehn Jahre sind vergangen. Die türkische Republik, ihrer Verfassung zufolge ein Rechtsstaat, hat das Gerichtsverfahren zu einem Mord, dessen Täter und Drahtzieher bekannt sind, nicht abgeschlossen. Wen würde es wundern, wenn der Prozess noch zehn Jahre läuft?

Erdoğan, der nach dem Mord an Dink mit folgenden Worten Aufklärung versprach: „Ich werde nicht zulassen, dass dieser Mord im Labyrinth von Ankara verschwindet und in Vergessenheit gerät“, ist gerade schwer damit beschäftigt, die letzten Reste der Demokratie zu vernichten. Jene, die verkündeten, das Kurden-, Armenier- und Zypernproblem zu lösen, sind nun dabei, neue Probleme in Syrien und im Irak zu schaffen.

Der Journalist und Mitherausgeber der in Istanbul erscheinenden Wochenzeitung Agos wurde am 15. September 1954 im ostanatolischen Malatya als Kind armenischer Eltern geboren.

Er studierte Zoologie und Philosophie und war als Student politisch links engagiert. Nach dem Putsch von 1980 wurde er mehrmals verhaftet.

1996 gründete er mit Freunden Agos, in der politisch heikle Themen auf Armenisch und Türkisch offen diskutiert werden.

Am 19. Januar 2007 wurde Dink in Istanbul auf offener ­Straße erschossen.

Die Regierung, die mit dem Versprechen an die Macht kam, die Türkei an westeuropäische Standards anzuschließen, kehrt heute Europa den Rücken. Die Türkei entwickelt sich zur Oligarchie wie Saudi-Arabien oder Katar. Die Regierung will uns weismachen, 1.400 Jahre alte religiöse Werte seien im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß. Diskussionen darüber sind tabu.

Deshalb brauchen wir dringend einen Tabubrecher, wir brauchen einen Hrant Dink.

Aus dem Türkischen

von Canset İçpınar

Aydın Engin, geb. 1941, ist Journalist und Kolumnist. Im Zuge der Verhaftungen nach dem Putsch 2016 wurde er verhaftet, kam aber aufgrund seines Alters wieder frei.