zwischen den rillen
: Die Körnung der Beats

Bonobo:„Migra­tion“ (Ninja Tune/Rough Trade)

Vor gut 45 Jahren machte der französische Sprachtheo­retiker Roland Barthes eine seltsame Entdeckung: Während er einem russischen Kirchensänger lauschte, schien sich unversehens dessen Stimme zu vervielfältigen. Neben eine singende, die den Inhalt einer Kantate vortrug, drängte sich plötzlich eine zweite, die den Vortrag störte und so viel Raum einzunehmen begann, dass ­Barthes bald nur noch sie hörte. Diese zweite Stimme drückte keinen Inhalt aus. Es hatte fast den Anschein, als bewege sie sich gänzlich außerhalb der Sprache. Diese Stimme arbeitete sich daran ab, die Vokale zu deformieren. Wie grobkörniges Schleifpapier kratzte sie an den Oberflächen der von den Lippen geformten Buchstaben, um sie aufzurauen. Was sie kratzen und schleifen ließ, das erkannte Roland Barthes kurz darauf, war der Körper: die Bewegung am Kehlkopf, das Schwingen und Aneinanderreiben der Stimmbänder, der vibrierende Brustkorb des Sängers. In einem Text von 1972 hielt er dieses Phänomen als „Rauheit“ oder „Körnung“ der Stimme fest und dehnte es zugleich auf die Musik sui generis aus.

Mit „Grains“, sprich Körner“, hat Simon Green alias Bonobo nun einen der Tracks auf seinem neuen, inzwischen fünften Studioalbum, „Migration“, betitelt. Der britische Produzent beginnt mit einem zum Stimmfragment zerfallenen Sample des Folksängers Pete Seeger, an dem Barthes sicher seine Freude gehabt hätte. Denn hier erklingt ein Pete Seeger, der gewissermaßen nicht zu Wort kommt, dessen erzählende Stimme immer kurz vor der Aussage abgeschnitten und von Neuem in den Loop gespeist wird. Was dank dieser Entrückung jedoch umso prägnanter hervortritt, ist das schaurig schöne Kolorit einer Stimme, die im Zwischenraum der Töne zu flimmern beginnt wie eine Fata Morgana. Überhaupt dreht sich in der Musik Bonobos vieles um die Ausstellung von Klangtexturen. In einer Paraphrasierung von Barthes’ Gedanken könnte man behaupten, dass deren eigenwillige Körnung ihren Klangkörper zutage treten lässt: Ein vieldeutiges Schillern der Klangfarbe, das keiner vorab bestimmten Intention folgt, sondern vielmehr ein Eigenleben zu führen scheint. Schon auf „Animal Music“, Greens zur Jahrtausendwende erschienenem Debütalbum, machte sich dieses Kuriosum bemerkbar. Zwar blieb der Klang jenes Werks noch weitgehend der plakativen Sample­ästhetik des HipHop aus dem 20. Jahrhundert verhaftet, doch ließ sich bereits in diesen ersten Gehversuchen eine seltsam plastische Qualität in der Art und Weise, in der Green seine Beats konstruierte und vor allem konturierte, ausmachen.

Derangierter Clap

Bonobos Drumbeats rotieren, als wären sie in einer Zentrifuge gefangen

Über die Jahre hinweg verlagerte sich der Fokus des Künstlers aus Brighton weg vom HipHop sukzessive hin zu Elektronika und Broken Beats – merklich zum Beispiel auf dem 2006 erschienenen Album „Days To Come“. Mit Tracks wie „Outlier“, samt dessen technoidem Interlude, gelangt diese Bewegung auf Migration nun zu ihrem vorerst logischen Schluss. Als diese Wandlung überdauernde Konstante blieb jedoch Bonobos markanter, inzwischen fast zum Aushängeschild seiner Musik avancierter Ansatz hinsichtlich des Sounddesigns: Insbesondere die Snare-Klänge und deren zahllose perkussive Variationen – ob als metallisch derangierter Clap oder fast ins Pornografische vergrößertes Abzugsklicken – üben in ihrer scheinbar endlos feinen Ziseliertheit einen nahezu physischen Sog auf das Ohr aus.

Als Gravitationszentrum ruhen sie inmitten der Tracks, die entlang ihrer Umlaufbahn rotieren, als wären sie in einer Zentrifuge gefangen. Auf „Migrationerreichen sie obendrein einen Grad der Verdichtung, derBlack Sandsoder „The North Borders“, jene Alben, die Bonobo einem breiteren Publikum eröffneten, noch in den Schatten stellt. Auch weil „Migration“, das neue Album, eher aus der klanglichen Verengung schöpft als aus den ausufernden Melodieströmen seiner Vorgänger. Bleibt die in Zeiten der Flüchtlingskrise unumschiffbare Frage nach der Bedeutung des Titels. „Migration erhebt keinen politischen Anspruch, vielmehr geht es ­Simon Green in der Entstehungsgeschichte seiner Tracks um die Bedeutung der Orte, an denen sie ihren kompositorischen Anfang oder ihr Ende finden und inwiefern sich Spuren dieser Orte letztlich im Klang vernehmen lassen. Vielleicht verbirgt sich auch das in der Körnung der Beats: der eingewobene Sound eines Fahrstuhls aus Hongkong oder jener eines ­Seattle im ­Regen. Robert Henschel