Surfen auf High Heels

Heute erscheint der Debütroman von taz-Redakteurin Fatma Aydemir. Ein Auszug aus „Ellbogen“

Wir laufen im selben Tempo weiter, ohne einander anzuschauen, als sei gerade das Normalste der Welt passiert Foto: Karsten Thielker

Fatma Aydemir

I’ma ruin you cunt!

I’ma ruin you cunt!

I’ma ruin you cunt!

Elma, Gül und ich springen wie drei Gestörte in Elmas Zimmer herum und rufen immer wieder den einzigen Satz, den wir aus „212“ kennen, während Ebru mit geschlossenen Augen tanzt und ihre Zeigefinger zum Beat bewegt, der so laut durch die Wohnung knallt, dass bald die Nachbarn klopfen müssten. Ebru hat ihr pflaumenblaues Kopftuch abgelegt, nachdem wir versprochen haben, keine Selfies mehr zu machen. Es liegt sauber gefaltet auf der Kante von Elmas Bett, daneben ein Berg aus schwarzen, grauen und transparenten Nuttenklamotten, aus denen sich Elma ihr Outfit für heute Abend, unser allererstes Mal in einem Club, zusammensuchen will.

„Hey, ich hab keinen Wodka mehr! Wo ist mein Wodka, ihr Fotzen?“, ruft Gül und schwenkt ihr Glas in der Luft.

Als sich Elmas Mutter vor eineinhalb Stunden verabschiedete, damit wir die Wohnung für uns haben, war es Gül, die ihr mit braver Miene versicherte, dass wir es auf keinen Fall übertreiben werden. Nun zuckt sie mit den Schultern, als sei sie ein monströser Gangsta-Rapper, und füllt ihr Longdrinkglas zur Hälfte mit purem Wodka. Sie gießt ein paar Tropfen Tonic darüber, nimmt einen großen Schluck und fängt an, heftig zu twerken, sodass ihr ganzer Drink in drei großen Wellen auf den Teppich schwappt.

„Gül, pass mal auf“, ruft Ebru.

„Was?“, schreit Gül und lässt ihre riesigen Hüften immer schneller kreisen, das leere Glas in der Hand.

„Du hast den ganzen Teppich versaut!“, ruft ihr Ebru mit großen Handbewegungen zu.

„Ich kann dich nicht versteeehen!“ Gül schließt die Augen und wirft ihre langen Haare durch die Luft, immer wieder, als wolle sie ihren Kopf in eine andere Dimension befördern. Sie kann den Rhythmus nicht mehr halten, verliert das Gleichgewicht, torkelt drei Schritte zurück und fällt seitlich auf das Bett. Sie liegt da wie eine gestrandete Meerjungfrau.

Elma hält sich den Bauch und sackt lachend zu Boden. Ihr frisch aufgetragener Mascara läuft ihr in Strömen die Wangen runter.

„Ich fass es nicht“, ruft Ebru und tänzelt mit hektischen Schritten in die Küche, einen Lappen holen.

Elma lacht noch lauter auf, zeigt mit dem Finger in Richtung Küche und sagt: „Sie ist so … Sie ist so angepisst!“

Ecstasy zum Frühstück

Ich fange auch an zu lachen, weil ich merke, wie ich es vermisst habe, zu viert abzuhängen, mit einer angepissten Ebru, die immer dann die Nerven verliert, wenn etwas außer Kontrolle gerät. Ich hätte sie gern dabeigehabt, als wir am Tag der Deutschen Einheit bei Gül Ecstasy gefrühstückt haben. Sie hätte eh nichts genommen, und trotzdem wäre sie die gewesen, die sich am seltsamsten verhalten hätte. Ebru scheint die ganze Zeit über in ihrer Blase zu sitzen, von der aus sie jeden sieht und kennt, in die aber niemand zu ihr eintreten kann. Deshalb kann man auch nie nachvollziehen, warum sie so überreagiert und ganz plötzlich total angepisst ist, oder traurig, oder beleidigt. Ebru scheint alles immer ein bisschen stärker zu spüren als andere, vor allem Negatives, und Ebru ist immer allein, selbst wenn sie mit uns ist. „Einsamkeit kann man nicht teilen“, hat sie an Weihnachten mit ängstlichen Augen zu mir gesagt, und für einen Moment habe ich geglaubt zu verstehen, was sie damit meint. Ebru hat sich schon früher immer wieder zurückgezogen, und Elma ist ja auch ein bisschen so, aber immerhin spricht Elma über ihre Probleme. Ebru aber behält alles immer für sich, keine Ahnung, was bei ihr abgeht. Das ist jedenfalls so, seit sie letztes Jahr nach dieser Facebook-Nummer ihren Ausbildungsplatz verloren hat und danach entschied, sich zu verhüllen und fünf Mal am Tag zu beten. Das war heftig, denn alle waren vorher total stolz auf Ebru gewesen, weil sie die Erste in unserer Klasse war, die direkt nach dem Abschluss ein Angebot hatte, und auch noch als Arzthelferin. Und dann, puff, war alles verloren. „jeder bekommt das, was er verdient #fuckcharliehebdo“, hat sie geschrieben, was auch immer das sollte, und Dr. Klinger hat es gesehen und gesagt, dass sie sie nicht länger ausbilden kann. Seitdem sitzt Ebru zu Hause. Und die Blase, in der sie sitzt, wird immer enger, wir sehen sie manchmal wochenlang nicht. Ein Wunder, dass sie heute gekommen ist, wenigstens zum Vortrinken, in den Club würde sie nie mitkommen. Ich beobachte, wie sie eifrig Elmas Kinderzimmerteppich schrubbt und ihr dabei Millionen kleine Gedanken über das Gesicht huschen, an dem alles winzig ist außer den Mandelaugen. Gedanken, die mit uns und dem Jetzt und dem Teppich wahrscheinlich überhaupt nichts zu tun haben. Ihre Stirn legt sich in Falten und glättet sich wieder, ihr schma­ler Brustkorb bläst sich mit unnötigen Sorgen auf. Sie wirft ihren geflochtenen Zopf über die Schulter, und ihre Augen suchen unauffällig nach Güls halbtotem, hügeligem Körper, der noch immer seitlich über Elmas Bett hängt. Ein Grinsen geht über Ebrus Lippen, kaum erkennbar, aber ich sehe es. Sie schaut ein letztes Mal konzentriert auf den feuchten Fleck vor sich auf dem Boden und ruft dann: „Komm Hazal, Gül wird dich nicht mehr schminken können. Ich mach das.“

Sie bringt den Lappen weg. Ich klicke die Musik leiser, krame meinen Schminkbeutel aus der Handtasche und setze mich vor den Wandspiegel. Elma hat sich bis auf den Slip ausgezogen, spaziert singend durch die Wohnung und probiert nacheinander ihre Kleider an. Sie hat nie ein Problem damit, nackt vor uns herumzulaufen, wir alle kennen den Leberfleck neben ihrer rechten Brustwarze. Ich dagegen gehe zum Umziehen immer ins Bad und verschließe die Tür. Elma findet das so merkwürdig, dass sie manchmal sagt, ich hätte wohl einen großen, dicken Schwanz und wolle ihn mit niemandem teilen.

„Ich sehe aus wie meine Mutter“, sage ich entsetzt, als Ebru den letzten Lidstrich korrigiert hat und mir den Handspiegel reicht.

Sie zuckt mit den Schultern und sagt: „Ja, stimmt.“

Gül steht wortlos auf und geht zur Toilette. Wir hören röchelnde Kotzgeräusche. Sie kommt wieder raus, läuft in die Küche und macht sich noch einen Drink.

Elma trägt ein hautenges Minikleid, das zwischen Brust- und Schambereich durchsichtig ist. Sie fragt: „Ist das zu nuttig?“ Ebru hält sich kichernd die Hand vor den Mund.

Elma trägt ein hautenges Minikleid, das zwischen Brust- und Schambereich durchsichtig ist. Sie fragt: „Ist das zu nuttig?“‚Ebru hält sich kichernd die Hand vor den Mund

Bevor wir die Wohnung verlassen, kippt sich jeder außer Ebru noch einen Shot rein. Wir drehen ein letztes Mal „212“ auf, Gül tanzt nur noch in Zeitlupe. Elma sprüht sich vom Haaransatz bis zu den Füßen mit Parfüm ein und reicht mir den Flakon. Danach greift sie mir von hinten an die Hüften, und ich mache ihr ­einen Lapdance im Stehen.

Wodka, Techno, U-Bahn

Elma kann als Einzige von uns in High Heels laufen, ohne sich zum Affen zu machen. Gül hält sich bei jedem Schritt an der Wand fest. Ich fühle mich, als würde ich zum ersten Mal auf einem Surfbrett stehen. Wir packen drei Paar flache Ballerinas in Güls Riesenhandtasche, für den Fall, dass wir es später auf unseren Nuttenschuhen nicht mehr aushalten. Im Treppenhauslicht merke ich plötzlich, wie leicht mein Kopf und wie warm meine Backen sind. Ebru, Gül und Elma singen „Happy Birthday“, und die alte Libanesin aus dem ersten Stock streckt ­ihren Kopf aus der Tür, um uns zu sagen, dass wir die Fresse halten sollen, weil ihr Mann Krebs hat.

An der Ecke zur Müllerstraße nimmt mich Ebru in den Arm und flüstert mir ins Ohr, ich soll auf Gül aufpassen. Wir machen ein Selfie zu viert, auf dem mein Gesicht nur halb zu sehen ist. Ebru knöpft ihr Baumwolljäckchen zu, rückt ihr Kopftuch zurecht, und wir schauen ihr hinterher, als sie mit verschränkten Armen nach Hause läuft. Elma, Gül und ich versuchen, so schnell wie möglich zur U-Bahn zu kommen, bevor uns jemand aus der Nachbarschaft in diesem Aufzug trifft. Wir haben Glück, nur Bahar vom Gemüseladen kommt uns entgegen. Sie macht ein verwundertes Gesicht und pfeift uns zu. „Macht nichts Unanständiges!“, ruft sie uns auf Türkisch nach, und dann auf Deutsch: „Viel Spaß!“ Auf der Rolltreppe frage ich mich, ob ich schon auf die Ballerinas umsteigen soll. Unten fährt die U6 ein, mit wackeligen Schritten erwischen wir sie.

„Gib mal einen Schluck“, sagt Elma und greift nach der Tonicflasche, in die wir den Rest Wodka umgefüllt haben.

Jeder in der U-Bahn schaut in eine andere Richtung, keiner kennt einander, außer uns und außer dem Pärchen, das nur schweigend Händchen hält, als hätte es gerade eine schwere Zeit hinter sich. Aus den Kopfhörern des schwarzen Typs im Vierer neben uns kommt so laut Techno, dass Gül mitnickt.

An der nächsten Haltestelle steigen drei Kanaken ein, etwa in unserem Alter. Der Kleinste mit dem Undercut spielt den Clown der Gruppe. Er stupst seine Freunde an und zeigt in unsere Richtung. Sie fangen an wie kleine Muschis zu tuscheln, es sieht so aus, als würden sie über Gül lästern. Elma streckt ihnen die flache Hand entgegen und schüttelt genervt den Kopf. Gül dreht sich zu ihnen um und mustert sie eine Weile.

„Uh, der mit dem roten Hemd ist heiß“, sagt sie und zupft an ihrem Dekolleté herum.

„Bitte, Gül“, sage ich. „Der ist hässlich wie die Nacht.“

„Ich stehe auf große Nasen. Große Nase heißt großer …“ Sie blinzelt uns verliebt an.

Elma verzieht ihr Gesicht, als müsse sie gleich kotzen, und schaut sich in ihrem Handydisplay an. Sie fährt sich mit den Fingerspitzen über die trockenen Aknehügel, die selbst unter den fünf Schichten Make-up noch zu erkennen sind.

„Oh Gott, die sprechen ja Arabisch. Und die wissen nicht, wie man Kottbusser Tor ausspricht!“, flüstert Gül und reißt ihre Augen ängstlich auf. „Das sind Fluchtis!“

„Na und?“, fragt Elma. „Eben fandest du die noch heiß.“

„Eben dachte ich auch noch, dass das Türken sind. Fluchtis sind voll pervers! Weißt du nicht, Köln und so?“

„Halt’s Maul, Gül. Du laberst echt Scheiße. Köln war voll erfunden von der Bild-Zeitung“, sagt Elma wütend, weil ihre Mutter auch als Fluchti von Bosnien nach Deutschland kam.

„Ja, ja, wenn du meinst.“ Gül schaut misstrauisch zu den Typen hinter sich. „Aber ich habe heute eh keine Lust auf Terroristen! Heute will ich was Blondes. Da gibt es doch sicher einen Haufen Touris in dem Club?“

„Bestimmt“, sage ich.

„Du hast den ganzen Teppich versaut!“ Foto: F.: D. Fotomeisjes/H. Hoogte/plainpicture

„So ein Engländer vielleicht.“

„Engländer?“, fragt Elma. „Wie kommst du auf den Scheiß?“

„Die sind groß und meistens voll gut gebaut. Und ich will mein Englisch aufbessern.“

Elma und ich grinsen uns an.

„Was ist denn so witzig, ihr Fotzen?“, fragt Gül und lallt schon ein bisschen.

„Toller Look, Hazal!“

An der Friedrichstraße laufen wir durch den Pissegeruch hoch und steigen in die S-Bahn um. Wir erzählen uns auf der Fahrt bescheuerte Geschichten aus der Schulzeit. Wie Gül aus dem Unterricht geflogen ist, weil sie in Mathe zu Herrn Lenz gesagt hat, er soll ihr nicht auf die Titten starren. Oder wie Elma angeblich dabei gesehen wurde, wie sie Drogen im Blumenkübel versteckt hatte, und der Rektor unseren Hausmeister alle Kübel ausschütten und die ganze Erde durchsuchen ließ. Er fand natürlich nichts, aber seine Arme sahen danach aus wie angeschissen. Oder wie ich nach meinem ersten Selbstmordversuch mit kurz geschorenen Haaren und hässlichen Seidentüchern um meine Handgelenke gewickelt zum Sportunterricht kam und unsere lesbische Sportlehrerin, die Eso-Mayer, meinte: „Das ist ja ein toller Look, Hazal!“ Ich kriege fast Atemnot, als Gül das gutmütige Gesicht der Eso-Mayer imitiert. „Ich lieeeeebe Seidentücher!“

Als wir am Ostkreuz die Rolltreppe verlassen, bleibt Elma vor der gelb blinkenden Lichterkette im Fenster einer hässlichen deutschen Kneipe stehen.

„Lasst uns noch einen Schnaps trinken, bevor wir in den Club gehen“, sagt sie und läuft in den Laden, ohne auf Antwort zu warten. Gül und ich folgen ihr. Innen richten sich natürlich sofort alle Blicke auf uns. Ziemlich alte Männer mit rötlichen Gesichtern und schweren Bäuchen sitzen da, sie sehen einander alle so ähnlich, als seien sie verwandt. Zwei Frauen mit dicken Tränensäcken sind auch da, ihre Haare fisselig, die Brüste schlaff. Es riecht nach kalter Asche und Bier. Elma baut sich an der Bar auf, um Shots zu bestellen. Gül schnappt sich einen Holzstuhl und blickt neugierig um sich. Ich gehe zur Jukebox in der Ecke des Raums und versuche herauszufinden, wie die funktioniert. So etwas gibt es nur in Filmen, habe ich immer gedacht. Keine der kleinen Platten, die sich beim Rumdrücken auf den Knöpfen mit drahtigen Geräuschen von links nach rechts schieben, sagt mir irgendetwas. Auf den meisten sind Schlagersänger mit lustigen Frisuren aus den siebziger Jahren abgebildet, und alle haben sie entweder eine Blume in der Hand oder sitzen vor deutschen Bergen im Gras oder beides. Ich wähle die erste Platte ohne Schlagertypen. Darauf sieht man einen Schwarzen in einem schicken grauen Anzug, mit Einstecktuch und Zahnpastalächeln. Marvin Gaye, geiler Name. Für 50 Cent kaufe ich „I Heard It Through The Grapevine“. Der Typ beginnt zu jaulen. Die Melodie ist fröhlich, aber in seiner Stimme liegt voll viel Schmerz. Mir gefällt das. Es klingt nach Trennung. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die gelbliche Wand zwischen Jukebox und Toilette und tippe eine Nachricht an Mehmet. Happy birthday to me.

Ich schicke einen Smiley hinterher. Und dann noch das Foto, das Ebru von mir gemacht hat, bevor wir losgingen.

Elma und Gül sitzen inzwischen an der Bar und leeren mit zusammengezogenen Gesichtern einen Shot auf Ex. Dass Mehmet nicht an meinen Geburtstag gedacht hat, finde ich überhaupt nicht schlimm. Ich habe es nur einmal erwähnt, vor ein paar Wochen, und er könnte es natürlich auf Facebook gesehen haben. Aber wahrscheinlich ist er zu beschäftigt, oder er findet Geburtstage lächerlich. Mit 28 ist das bestimmt nicht mehr so wichtig. Plötzlich ist mir die SMS total peinlich. Happy birthday to me, was für eine behinderte Scheiße. Ich versuche, nicht daran zu denken, und setze mich zu Elma und Gül. Sie drücken mir auch ein Shotglas in die Hand. Der Wodka ist warm und geht nur mühsam runter. Elma hat Gül anscheinend von ihrem neuen Job an der Puff-Bar erzählt, denn Gül stellt ihr Fragen zu Blowjobpreisen und spielt dabei nervös an ihren Haaren herum. Der schlecht gelaunte Mann mit dem Schnurrbart hinter dem Tresen nickt Elma zu und stellt uns drei Redbull hin. Wir trinken auf mich, aufs Erwachsenwerden und „auf Elmas neuen Job“, weil Gül sich das wünscht. Dann trinken wir noch einen Shot und küssen einander auf die Lippen, und beim letzten Mal versucht Elma, mir die Zunge reinzustecken. Ein Shotglas und noch eines klopft gegen das Holz des Tresens und wir lachen uns tot, ohne zu wissen, worüber. Die beiden Alkis neben uns zeigen ihre schlechten Zähne und rufen „Prost!“.

Wieder Marvin Gaye

Ein anderes Lied läuft, ich glaube, auch von Marvin Gaye. Diesmal ist es ein ruhiger, superleichter Song, der irgendwie total zu diesem Laden passt und dann irgendwie auch gar nicht. Er passt zu dem orangefarbenen Licht, zu den Rauchschwaden über uns, zu den gekrümmten Rücken am Tresen, zu den müden Augen, die sich darüber freuen, dass sie heute Abend mal etwas Neues zu sehen bekommen und deshalb ständig zu uns herüberschielen. Aber irgendwie ist hier alles dann doch zu kalt, zu hart, zu deutsch für die Melodie, die sich wie eine sanfte Fleecedecke um meine Schultern legen will. Ich klemme einen Zwanzig­euroschein unter eines der leeren Gläser, und wir stehen auf.

„Elma, ich will dich mal was fragen“, sagt Gül vorsichtig, als wir uns vor der Tür Kippen anstecken und dann langsam in Richtung Club losstöckeln. Es hat ganz leicht geregnet, vielleicht nur Sekunden, während wir in der Kneipe waren. Der Boden glänzt feucht, aber es gibt keine Pfützen.

Die Autorin: Fatma Aydemir (Foto), Jg. 1986, hat Germanistik und Amerikanistik in Frankfurta. M. und San Diego studiert. Seit 2012 lebt sie in Berlin und ist Redakteurin im Ressort tazzwei.

Lesungen: 7. 2. Berlin, Berghain-Kantine, 1. 3. Hamburg, Literaturhaus, 11. 3. Köln, 3. 4. Karlsruhe, 5. 4. München.

„Was denn, Schatz?“ fragt Elma.

„Wie ist das denn so, wenn man …“ Gül zieht an ihrer Zigarette. Ihre Stimme hört sich nüchterner an als vorhin, aber ihr Gesicht hat den zufrieden-verwirrten Zug eines besoffenen Penners. „Also, wie fühlt sich das an, mit einem Mann?“

„Wie fühlt sich was an? Was meinst du?“, fragt Elma und spuckt auf den Boden.

„Na, du weißt schon“, sagt Gül. „Im Bett. Also so richtig, nicht nur oral.“

Ich gebe mir Mühe, überhaupt keine Reaktion zu zeigen, und ich merke, dass Elma dasselbe tut. Wir laufen im selben Tempo weiter, ohne einander anzuschauen, als sei gerade das Normalste auf der Welt passiert. Als würde Gül nicht endlich zugeben, dass sie noch Jungfrau ist.

„Na ja“, sagt Elma. „Stell dir vor, jemand steckt dir einen Finger in die Nase.“

„Fick dich“, sagt Gül genervt.

Elma bleibt stehen und schaut Gül schulterzuckend an.

„Im Ernst“, sagt sie, „stell dir vor, der stochert mit seinem Finger in deiner Nase herum. Immer wieder, die ganze Zeit. Genauso fühlt sich das an. Es ist echt nichts Besonderes, aber irgendwie unangenehm.“

Gül macht ein nachdenkliches Gesicht und geht weiter, ohne einen Kommentar. Keine Ahnung, ob sie enttäuscht oder erleichtert ist. Und ich weiß auch nicht so recht, was ich von Elmas Antwort halten soll.

Wir biegen in eine leere Straße ein, die von blau beleuchteten Fabrikgeländen umrahmt ist.

„Da vorne muss es sein“, sage ich und laufe ein bisschen schneller voraus. Das mit den Schuhen klappt inzwischen besser, mein Körper gewöhnt sich daran, dass das gesamte Gewicht auf den Zehenspitzen lastet.

Als ich am Baumarkt um die Ecke biege, kann ich ihn sehen. Es ist ein riesiger, grauer Klotz ohne Fenster, fast unheimlich. Vor dem großen Tor stehen bestimmt dreihundert Leute Schlange.

„Scheiße“, sagt Elma, als sie und Gül mich erreichen. „Das wird ewig dauern, bis wir da reinkommen.“

Gül löst sich aus Elmas Arm und läuft mit kleinen, trippelnden Schritten auf die Schlange zu, wie eine Motte in Richtung Licht, eine balletttanzende Motte. Wir hören den dumpfen Bass aus dem Inneren des Klotzes immer lauter werden.

„Wenn wir überhaupt reinkommen ...“, schiebt Gül hinterher.

Die wartenden Leute sind alle tätowiert, trinken Schnaps, hören Musik von ihren Handys, umarmen sich, knutschen, sprechen seltsame Sprachen, lachen, schreien, stehen gelangweilt herum und beobachten die anderen durch dicke Brillengläser oder mit weit aufgerissenen Augen. Wir stellen uns ganz hinten an.

„Warum tragen die alle Turnschuhe?“, fragt Gül angewidert.

Ich zucke mit den Schultern. Elma spielt aufgeregt mit der Zunge an ihrem Oberlippenpiercing herum.

Dies ist ein Auszug aus dem heute erscheinenden Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir (Hanser Verlag, München 2017, 272 S.,20 Euro). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags