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: Die Kamera schwingt als Körper

„Varieté“ (D 1925, Regie: E. A. Dupont)

Zwei Fassungen existieren von „Varieté“, einem Klassiker des Stummfilmkinos von E. A. Dupont aus dem Jahr 1925. In beiden heißt der Protagonist Boß (einfach nur: Boß) und wird von Emil Jannings gespielt, einem der größten Stars des Weimarer Films. Die eine Fassung, sie war in den deutschen Kinos zu sehen, hat einen Prolog. Darin wird erzählt, wie Boß Frau und kleine Tochter verlässt, als eine attraktive Frau aus Ungarn des Wegs kommt. Weil Männer auf einem Kahn sie fanden, trägt sie, wie der Kahn, den Namen Berta-Marie.

In der anderen Fassung, dreißig Minuten kürzer, sie wurde in den amerikanischen Kinos gezeigt, fehlt dieser Prolog. Dieses Fehlen macht aus Boß einen etwas anderen Mann, obwohl ihm im Fortgang jeweils dasselbe widerfährt. Er wird nämlich selber betrogen und er wird aus Rache als Gehörnter zum Mörder. Im einen Fall ist er ein betrogener Betrüger, im anderen jemand, der, was Jannings mit seinem traurigen Mondkalbgesicht sowieso kann, ungebrochenes Mitleid mobilisiert.

Hier wie da erzählt der Film im Rückblick. Boß ist ein alter, gebrochener Mann im Gefängnis, der vor der Entlassung sein Schicksal in den Bildern erzählt, aus denen der Film dann besteht. In beiden Fassungen war „Varieté“, in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten, ein Riesenerfolg. Er ist an Attraktionen sehr reich. Dazu gehört Lya de Putti als Berta-Marie in ihrer bekanntesten Rolle. (Sie scheiterte, wie auch Regisseur E. A. Dupont, bald darauf mit ihrem Versuch, in Hollywood Karriere zu machen.) Zu den Attraktionen gehören auch viele Stars des Berliner Wintergarten-Varietés. Etwa die Tiller-Girls, deren maschinenhafte Tanzchoreografien für Siegfried Kracauer demonstrierten, wie sich auf dem Weg von Caligari zu Hitler die Masse zum Ornament formen lässt.

Da werden Gesichter zur Leinwand, Augen zu dunklen Gestirnen in einem sehr weißen Himmel

Oder, dies die in die vielen Aufnahmen der Varieté-Stars etwas mühsam hineinfingierte Geschichte, die Trapez­artisten, zwischen denen sich die Betrugs- und Eifersuchtsgeschichte entspinnt. Boß und Berta-Marie sind eigentlich nicht mehr als Rummelplatzkünstler, haben aber das Glück, dass der Trapez-Star Artinelli nach dem Todessturz seines Bruders sie als neue Partner erwählt. Nur fallen seine lüsternen Blicke dabei auch auf Berta-Marie. Und das ist sehr wörtlich zu nehmen, da Dupont ein großer Freund von Großaufnahmen ist: Da werden Gesichter zur Leinwand, Augen zu dunklen Gestirnen in einem sehr weißen Himmel, Inbegriff des Affektbilds, wie Gilles Deleuze das genannt hat.

Der noch größere Star allerdings ist nicht in den Bildern zu sehen, sondern ist die Instanz, die sie hervorbringt: Karl Freunds Kamera, die sich in der Kuppel des Varietés Freiheiten nimmt, die damals grenzenlos schienen. Sie schwingt als Körper mit den schwingenden Körpern und wird dabei schwerelos wie diese auch. Die fliegenden Blicke werden zum Inbild des bewegten Bewegers, als der die Karl-Freund-Kamera in den Zwanzigern Sensation gemacht hat. Sie ist Teil eines weit aufgespreizten expressionistischen filmischen Vokabulars, zu dem die Großaufnahme gehört, aber auch wilde Montagen, eigenwillige Perspektiven und ein Darstellungsstil, der nicht sanft modelliert, sondern Ausdruckskörper groß meißelt.

Die Murnau-Stiftung hat die Langfassung dieses Klassikers wunderbar restauriert. Mit ihrer DVD-Veröffentlichung vor zwei Jahren bekam sie dennoch gehörigen Ärger. Auf der Tonspur ist nämlich die Vaudeville-Band The Tiger Lillies zu hören, deren Falsettgesang viele Käufer auf den Tod enervierte. Aus England gibt es bei Eureka nun eine Alternative: Neben der Tiger-Lillies-Musik bietet die DVD zwei andere, deutlich konservativere Scores. Ekkehard Knörer

Die Eureka-Fassung ist ab rund 20 Euro als Import im Handel erhältlich.