„Anonymität ist wichtig“

Missbrauch Bei Verdachtsfällen über sexualisierte Gewalt sollten Medien zurückhaltend berichten, um Betroffene zu schützen, sagt Karima Stadlinger, Beraterin von Schattenriss

Prävention: In Kindergärten sollte es keine nicht einsehbaren Rückzugsräume geben Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Interview: Eiken Bruhn

taz: Frau Stadlinger, was haben Sie gedacht, als Sie den Bericht über einen Missbrauchsverdacht in einem Bremer Kindergarten gelesen haben?

Karima Stadlinger: Es ist gut, über das Thema sexueller Missbrauch immer wieder zu berichten. Aber wenn es um ein laufendes Verfahren geht, sollte sehr sorgfältig abgewogen werden, was in die Öffentlichkeit gerät – um den Schutz der Betroffenen zu gewährleisten.

Die Bremer Polizei sagt, dass sie über solche Verdachtsfälle nur informiert, wenn sie Zeugen sucht oder die Bevölkerung gewarnt werden soll – um eine Retraumatisierung durch Befragung von Medien und anderen Dritten zu vermeiden.

Ja, die Gefahr besteht in hohem Maße. Es geht auch darum, dass die Anonymität der Betroffenen gewahrt bleibt.

In diesem Fall hatte sich die Mutter eines Jungen an die Presse gewandt, weil sie sich offenbar vom Kindergarten nicht ernst genommen gefühlt hatte – obwohl dieser den beschuldigten Mitarbeiter freigestellt und einen von einer Expertin begleiteteten Elternabend einberufen hatte. Wie kann man so etwas vermeiden?

Auch wenn sich eine Einrichtung sehr verantwortlich verhält, sind Eltern in aller Regel emotional sehr aufgewühlt und sie haben das Gefühl, „hier muss doch noch mehr passieren“. Dann ist es ratsam, ihnen dabei zu helfen, sich Unterstützung durch eine Fachberatung zu holen, wo sie ihre Anliegen besprechen können.

Was bringt ein Elternabend?

Ein Elternabend kann zur Beruhigung beitragen. Informationen über Handlungsmöglichkeiten und darüber, was die Einrichtung bisher unternommen hat und zukünftig tun wird, helfen, damit die Eltern Sicherheit gewinnen. Wichtig ist, die Ängste der anderen Eltern, dass auch ihr Kind betroffen sein könnte, ernst zu nehmen. Deswegen ist es auch gut, Eltern darüber zu informieren, wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen können. Ganz wichtig ist dabei, dass sie nicht anfangen bohrend nachzufragen, nach dem Motto „Hat er das auch bei dir getan“, sondern Gesprächsbereitschaft signalisieren. „Ich bin hier, wenn du etwas erzählen möchtest.“

Warum sollten sie Nachfragen vermeiden?

Zum einen können Betroffene sehr unter Druck geraten, wenn sie nicht freiwillig erzählen können, sondern etwas gegen ihren Willen machen müssen. Das ist ihnen beim Missbrauch bereits geschehen. Manche Kinder sagen dann gar nichts mehr. Es ist wichtig zu verstehen, dass es Zeit und Vertrauen braucht, um zu sprechen, eigene Scham- und Schuldgefühle spielen dabei eine große Rolle. Zum anderen ist es wichtig, dass Aussagen für die Polizei verwertbar bleiben, falls es zu einer Anzeige kommt und sie nicht durch Suggestionsfragen verfälscht werden.

Sie sagen, „falls es zu einer Anzeige kommt“. Ist das nicht immer sinnvoll?

Niemand ist verpflichtet, eine Anzeige zu machen. Wir raten zu einer sorgsamen Risikoabschätzung und die Vor- und Nachteile gut zu überlegen. Es ist wichtig, dass die Kinder darüber informiert sind, welche Konsequenzen eine Anzeige hat, dass sie befragt werden und dass es zu einem Gerichtsverfahren kommen kann. Der Schutz der Kinder hat oberste Priorität. In manchen Fällen kann es ratsam sein, dass die Polizei schnell ermittelt, wenn die Gefahr besteht, dass Beweise vernichtet werden könnten wie Bild- und Tonaufnahmen oder Chatverläufe.

Was geschieht bei der Risikoabschätzung?

Das geschieht im besten Fall mithilfe einer externen Fachberatung, die in einem geschützten Rahmen offene Fragen stellt, um zu bewerten, ob ein Missbrauch die Ursache des auffälligen Verhaltens sein kann. Gibt es Spuren, Zeuginnen, eindeutige Aussagen der betroffenen Kinder? In vielen Fällen, mit denen wir zu tun haben, gibt es keine eindeutigen Beweise und es ist nicht sicher, wer der Täter gewesen sein könnte.

Karima Stadlinger

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50, Diplom-Pädagogin, ist Beraterin bei Schattenriss, einer Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen.

Wie kommt es überhaupt zu einem Verdacht?

Meistens ist es so, dass Erwachsenen etwas auffällt. Eltern oder Erzieherinnen, die merken, dass sich das Verhalten eines Kindes plötzlich geändert hat, es sehr ängstlich geworden ist, einnässt oder stark sexualisiertes Verhalten zeigt, masturbiert, anderen gegenüber übergriffig ist oder etwas nachspielt, was nach einem Missbrauch aussieht.

Das ist bei Kindergartenkindern nicht leicht zu erkennen, oder? Selbst wenn sie sich oder anderen Gegenstände einführen, heißt das nicht, dass dies jemand bei ihnen gemacht hat?

Das stimmt, Kinder können das aus Neugier machen. Wenn ein Kind das aber immer wieder macht und sich nicht ablenken läßt, kann dies ein Hinweis sein. Das Wichtigste für Erwachsene ist, wahrzunehmen, ob sie ein komisches Gefühl dabei haben, ob sie vielleicht wahrnehmen, dass Macht und Gewalt im Spiel ist. Oder irgendetwas, das sie gar nicht benennen und einordnen können. Beispielsweise bestimmte Äußerungen der Kinder. Das ist meistens der Ausgangspunkt, wenn wir dazu gerufen werden. Und uns ist es lieber, sich einmal zu viel bei uns zu melden als einmal zu wenig.

Und dann?

Dann ist es wichtig, das Beobachtete genau zu dokumentieren und dafür zu sorgen, dass das Kind geschützt ist. Und es möglichst von einem Verdächtigen zu trennen, was aber nicht immer möglich ist. Ganz falsch wäre es, den Beschuldigten im Beisein des Kindes mit dem Verdacht zu konfrontieren.

Das wird gemacht?

Leider gar nicht so selten.

Was heißt das für das Kind?

Es besteht ein Machtgefälle, das Kind kann wahrscheinlich gar nichts sagen, weil die Täter oft drohen, es würde Schlimmes passieren, wenn sie etwas verraten. Und sie haben das Vertrauen der Kinder gewonnen, sodass diese die Täter auch schützen wollen.

Vor zwei Wochen erschien im Weser Kurier ein Artikel über eine Mutter, die einen Erzieher verdächtigte, ihren Sohn im Kindergarten an Po und Genitalien gekitzelt zu haben.

Anders als der Artikel es darstellte, hatte der Träger der Kita dem Erzieher keinen Anwalt „zur Seite gestellt“, sondern ihm geraten, sich Hilfe zu suchen.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft gibt es in Bremen jährlich 130 bis 140 Verfahrenwegen sexuellen Missbrauchs.

Die Dunkelzifferwird von Expertinnen für ein Vielfaches höher gehalten.

Es gibt Schätzungen, dass einem Drittel der Mädchen und zehn bis 20 Prozent der Jungen von Familienangehörigensexualisierte Gewalt angetan wird.

Was kann noch schiefgehen?

Bei einem Missbrauchsverdacht entfaltet sich sehr schnell eine eigene Dynamik, wenn es keine klaren Handlungsabläufe gibt und Verantwortliche, die einen sicheren Rahmen vorgeben. Es kann zu Spaltungen im Team kommen, wenn sich die einen mit dem Beschuldigten solidarisieren, es nicht glauben können und wieder andere helfen wollen. Im Interesse der Kinder ist es aber, dass das Team arbeitsfähig bleibt und sich weiter gut um sie kümmern kann. Deswegen benötigen auch die betroffenen Fachkräfte Unterstützung.

Angenommen, ein Verdacht gegen einen Erzieher lässt sich nicht erhärten – wie kann er dann überhaupt noch in einer Einrichtung weiterarbeiten?

Wenn der Verdacht ausgeräumt werden kann, dann muss so ein Handlungsleitfaden auch einen Plan zur Rehabilitierung des Beschuldigten enthalten und ein klares Ende des Verfahrens. Und es ist wichtig, dass sich eine Einrichtung der Frage stellt, wie es seine Schutzräume verbessern und Arbeitsabläufe transparenter machen kann.

Haben Sie ein Beispiel?

Wickeltische sollten so stehen, dass sich niemand mit einem Kind ganz zurückziehen kann, womöglich hinter geschlossene Türen. Wenn sich die Einrichtung einer guten Risikoanalyse unterzieht, ist das wirksame Prävention. Das ist wesentlich besser, als männliche Erzieher die Kinder nicht mehr wickeln zu lassen, wie es manche praktizieren. Es ist ja gut, wenn Männer im Kindergarten arbeiten und Kinder sie als fürsorglich erleben. sie sollten nicht unter Generalverdacht gestellt werden.