Dem anderen auf der Spur

Nachruf Tzvetan Todorov, einer der Wegbereiter des Strukturalismus, ist in Paris gestorben

Tzvetan Todorov, Autor von „Die Eroberung Amerikas“ Foto: dpa

In seinem letzten Buch, das erst am 14. Februar 2017 ausgeliefert werden wird, beschäftigt sich der Philosoph, Essayist und Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov mit dem Verhältnis von russischer Revolution und Künstler in der Zeit von 1917 bis 1941. Im ersten Kapitel, das Le Monde vorab druckte, beschreibt Todorov seinen intellektuellen Werdegang, der ihn von der literaturwissenschaftlichen Arbeiten immer mehr zu politischen Themen führte.

Auf das Ende des Kalten Kriegs und den Fall der Mauer – so Todorov – folgten im Osten Veränderungen, die die Völker keineswegs als „Schritt zum Glück empfanden, wie viele hofften“. Im Westen wurde im Namen „großer demokratischer Werte und Menschenrechte eine neue politische Offensive eingeleitet, deren einziges zählbares Resultat die Stärkung des Einflusses dieser Länder auf den Rest der Welt bildete“.

Dieses zweifache Scheitern brachte Todorov in seinem letzten Buch dazu, erneut über die Schwächen und Chance einer demokratischen Ordnung nachzudenken, denn er war davon überzeugt, dass der „heute herrschende Ultraliberalismus mehr dem totalitären Kommunismus gleicht als dem klassischen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts“. Benjamin Constant (1767–1830), einem frühen Kritiker von Autoritarismus und Konformismus, hatte er schon vor zwanzig Jahren eine Monografie gewidmet.

Der am 1. März 1939 in Sofia (Bulgarien) geborene Tzvetan Todorov verstand sich seit den 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren in zahlreichen Büchern, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als politischer Intellektueller, engagierter Zeitgenosse und – in Abgrenzung zu Michel Foucault etwa – explizit als „Humanist“. Todorov emigrierte 1963 nach Frankreich, schloss seine linguistischen und literaturwissenschaftlichen Studien in Paris ab.

Er beschäftigte sich zunächst mit fantastischer Literatur und übersetzte Texte russischer und tschechischer Formalisten ins Französische, wo sie die damals in Frankreich vorherrschende Methode des Strukturalismus in der Literatur- und Sozialwissenschaft beeinflussten. Seine „Einführung in den Strukturalismus“ erschien 1968 und wurde zwei Jahre später ins Deutsche übersetzt, wie rund ein halbes Dutzend weiterer literaturwissenschaftlicher Texte, die an deutschen Universitäten regelrecht Konjunktur hatten.

Außeruniversitäre Bekanntheit erlangte Todorov in Frankreich bereits mit seinem Buch „La conquête de l’Amérique“ (1982), das jedoch erst zwanzig Jahre später auf Deutsch erschien („Die Eroberung Amerikas“, Suhrkamp). Seit den 1980er Jahren beschäftigte sich Todorov ohne zu essentialisieren mit dem „Problem des Andersseins“ (so lautet der Untertitel des Buchs) und der kulturellen Identität, die neben Literaturwissenschaftler auch für Soziologen und Ethnologen wachsende Bedeutung erhielten.

Seither wandte sich Todorov verstärkt philosophisch-politischen Themen wie dem Verhältnis von Universalismus und Ethnizität beziehungsweise Nationalität zu, wobei er sich gegen jedmögliche postmoderne Relativierungen immer am „Geist der Aufklärung“ orientierte und sich öffentlich gegen rechte Parolen wie den „Krieg gegen den Terror“ von Präsident George W. Bush oder den „Kampf der Kulturen“ von Samuel Huntington stellte, etwa in seinem Buch „Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen“ (2010). „Anerkennung“ und „Toleranz“ wurden zu Schlüsselbegriffen in seinen zahlreichen Beiträgen zu politischen Debatten in europäischen und US-amerikanischen Zeitschriften. Tzvetan Todorov wurde international mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem angesehenen „Prinz-von-Asturien-Preis“ (2008).

Am Dienstag dieser Woche ist Todorov im Alter von 77 Jahren an den Folgen einer Erkrankung des Nervensystems in Paris gestorben. Rudolf Walther