Als es Nacht wurde auf der Welt

Jahrestag Am 23. Februar 1942 nahm sich Stefan Zweig in Brasilien das Leben. Sein letztes Werk über die präfaschistische Gesellschaftsordnung und die Zeit im Exil analysiert ein Essay von George Prochnik

Stefan Zweig auf der Schiffspassage nach Brasilien, 1936 Foto: Stefan Zweig Centre Salzburg

von Stephan Wackwitz

Die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren finstere Zeiten. Hitler war auf dem Höhepunkt seiner Macht, die linken und liberalen europäischen Intellektuellen auf der Flucht, und die Sowjetunion Josef Stalins betrat die Bühne der Weltpolitik. Diese Zeit hat eine schwarz glänzende Phalanx von Büchern hervorgebracht: „L’Etranger“ und der „Mythos vom Sisyphos“ (beide 1942) von Albert Camus. „Die Dialektik der Aufklärung“ (1944) von Horkheimer und Adorno. „Geschlossene Gesellschaft“ (1945) von Jean-Paul Sartre. George Orwells „Animal Farm“ (1945). Thomas Manns „Doktor Faustus“ (1947).

Auch Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von Gestern“ – eine literarische Verklärung des alten, vortotalitären Europas – gehört trotz seines erfreulichen Themas und seines nostalgischen Timbres in die Reihe dieser schwarzen Klassiker der Weltliteratur. Zweig malt die unmittelbar Vergangenheit im Abendlicht. Was nichts anderes bedeutete, als dass es inzwischen tiefe Nacht geworden war auf der Welt. Das Buch entstand im amerikanischen Exil, in Ossining, einer Kleinstadt am Hudson River. Es erschien 1942, dem Jahr, in dem Zweig sich in Brasilien das Leben nahm.

Dass in unserer Gegenwart, die das liberale Nachkriegsmodell der internationalen Beziehungen und des gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer tiefen Krise sieht, Stefan Zweig und sein letztes Buch wieder entdeckt werden, ist leicht zu verstehen. Wes Andersons Film „The Grand Budapest Hotel“ von 2014 bezeichnet sich im Abspann als „inspired by the writings of Stefan Zweig“. Im selben Jahr ist eine Biografie Zweigs erschienen, die seine Jahre im Exil in der Form eines inspirierten personal essay erkundet, in den auch die Erfahrungen des Autors und seiner eigenen Familie mit Flucht, Vertreibung und Exil eingegangen sind.

Der Blick vom Ende her

George Prochnik, Enkel eines 1938 aus Wien nach Boston geflüchteten jüdischen Arztes, ist Editor-at-large des Cabinet Ma­gazine, einer der hochinteressanten intertextuellen Zeitschriften, die sich derzeit in den USA hervortun, und schreibt nebenher für die New York Times und den New Yorker. Sein Buch „Das unmögliche Exil: Stefan Zweig am Ende der Welt“ ist im Herbst bei C. H. Beck auf Deutsch erschienen.

Prochnik beschreibt das Leben des vermutlich erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellers und literarischen Salonlöwen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dessen Ende her. Die literarischen Biotope Wien, London, New York, Rio de Janeiro, Petrópolis, aber auch Zweigs Ehen, seine Triumphe, sein Reichtum, seine Neurosen, seine politischen Illusio­nen und vor allem das moralisch-politische Pathos der 1933 entmachteten deutschen Intelligenzija werden mit soziologischer und psychologischer Präzision analysiert.

Geschildert wird all das in einer klaren, emphatischen Sprache – immer aber im Blick auf jenen Moment, in dem Stefan Zweig, gestrandet in Brasilien, am 23. Februar 1942 keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Dabei ist dieser Moment nicht selbstverständlich, er ist auch nicht zwangsläufig gewesen. Andere erfolgsverwöhnte Schriftsteller der Weimarer Zeit, Thomas Mann, Carl Zuckmayer, brachten im Exil die Widerstandskraft auf, der Hoffnungslosigkeit, dem Verlust ihrer gesellschaftlichen Stellung, den katastrophalen Nachrichten aus der Heimat zu trotzen und bedeutende Nachkriegskarrieren vorzubereiten.

Thomas Mann („Wo ich bin, ist die deutsche Kultur“) schaffte es sogar, sich in den USA als eine repräsentative Figur der Kultur nicht nur seines Heimatlandes, sondern überhaupt der freien Welt zu etablieren. Eine Existenz- und Selbstdarstellungsform, die es so nicht gegeben hatte.

Ohne Wien nicht denkbar

Zweig war konstitutionell besonders schlecht geeignet, das Exil unbeschadet zu überstehen. Seine Begabung für Freundschaft, Flirt, Geselligkeit und Konversation, sein literarischer, gesellschaftlicher und finanzieller Erfolg seit früher Jugend, seine literarischen und gesellschaftlichen Techniken waren angewiesen darauf, dass ihm ein stetiger Zufluss von Bestätigung und eine Ordnung der kulturellen Selbstverständlichkeiten entgegenkam. It takes a village to raise a child, und für manche Künstler braucht es eine ganze Gesellschaftsordnung, um sie hervorzubringen. Zweig war ohne Wien nicht denkbar.

Er war der typische (wenn auch nicht der literarisch bedeutendste) Exponent der letzten kulturellen Konstellation deutschsprachiger Gesellschaften, die Bücher von weltliterarischer Geltung hervorgebracht hat: der Symbiose von deutscher Kultur und jüdischer Assimilation in Wien und Prag. „Damit Dichtung geschrieben werden kann, braucht sie Erinnerungen an eine archaische Welt, in der die Aura der Wörter nicht völlig durch technische Medien zerstört worden ist“, schrieb Heinz Schlaffer; „wo noch nicht die Aufklärung des Journalismus, der popularisierten Wissenschaft und des Tauschverkehrs die letzten Reste von Glauben und Aberglauben beseitigt hat; wo jemand, der schreibt, die Mühsal der Befreiung von vorliterarischen Traditionen darstellt, die er dadurch zugleich zerstört und im Gedächtnis bewahrt.“

Dieses deutsch-jüdische Milieu hatte Hitler ermordet und damit den Hintergrund ausgelöscht, vor dem Stefan Zweig denkbar und sichtbar gewesen war. Zweig wusste das, und er wusste, dass es für immer sein würde. Mit der Weltgeltung der deutschen Literatur war es nach dem deutschen Mord an den Juden tatsächlich vorbei.

Zweig verstand in Brasilien, dass seine Literatur und er selbst nie mehr von heute sein würden. Der deutsche ­Faschismus hatte diese Welt ­unwiderruflich ­zerstört, und das ist der Grund für den Glanz, in dem diese vergangene Welt aufleuchtet

Stefan Zweig spürte die Unwiderruflichkeit des Epochenbruchs deshalb so existenziell, weil sein Leben und sein Werk so typisch gewesen waren für „die Welt von gestern“. Er verstand in Brasilien, dass seine Literatur und er selbst nie mehr von heute sein würden. Der deutsche Faschismus hatte diese Welt unwiderruflich zerstört, und das ist der Grund für den Glanz, in dem diese vergangene Welt in Zweigs Buch und – als ironisch-postmoderne Reprise – in Wes Andersons Film aufleuchtet. Das ist aber auch der Grund dafür, dass ein anderer Untergang sich in diesen Tagen und Wochen in Stefan Zweigs Untergang spiegelt. Am 6. Februar veröffentlichte George Prochnik im New Yorker ein Stück, in dem er sich vorstellt, was passieren könnte, wenn Präsident Trump einen amerikanischen Reichtagsbrand inszenieren würde, „the pretext for the the government to begin terrorizing its own civilian population“.

Open society als Weltmacht

Ob so etwas wirklich passieren könnte, weiß man nicht. Der Widerstand, der dem Präsidenten derzeit aus der Zivilgesellschaft, aus den demokratischen Institutionen und sogar aus seinem eigenen Apparat entgegenkommt, spricht eher dagegen. Geschichte wiederholt sich nicht. Und doch scheint seit Donald Trumps Wahlsieg eine Epoche in ähnlicher Unwiderruflichkeit zu Ende zu gehen wie die deutsch-jüdische Kultur zur Zeit von Stefan Zweigs Suizid. Diese Epoche ist das knappe Jahrhundert der Globalisierungshegemonie Amerikas, der historische Sonderfall einer open society als Weltmacht.

Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel hat, ebenfalls in diesen Tagen, dem Freitag ein Interview gegeben, das einem die Augen öffnen kann für die tatsächliche Lage. Menzel wies nüchtern und ernüchternd auf die exorbitanten Kosten hin, die Amerika in den letzten Jahrzehnten für die liberale Nachkriegsweltordnung aufbringen musste. Er argumentiert, dass der Status der USA als liberale Weltordnungsmacht aus innenpolitischer Sicht schon seit einiger Zeit nicht mehr bezahlbar und der eigenen Bevölkerung zu vermitteln war.

„Oh and one more thing – you aren’t going to like what comes after America“, schrieb Leonard Cohen in seinem letzten Buch. Das war ein prophetisches Bonmot. Der kommende Garant der Globalisierung, meint Ulrich Menzel, wird China sein, ein Land, das für liberale Traditionen kein Verständnis hat. Handelskriege und militärische Auseinandersetzungen scheinen bevorzustehen. Die liberale Pax Americana, jahrzehntelang das Hassobjekt einer ganzen Generation, erscheint zu Beginn des Jahres 2017 im milden, fast nostalgischen Licht einer „Welt von gestern“.

George Prochnik: „Das unmögliche Exil: Stefan Zweig am Ende der Welt“. C. H.Beck, München 2015, 397 Seiten, 29,95 Euro