Abtreibung in Deutschland: Die ungewollte Patientin

War das Abtreibungsverbot des Arztes in Niedersachsen eine Ausnahme? Recherchen zeigen: In vielen Regionen bieten Kliniken keine Abbrüche an.

Ein Untersuchungszimmer beim Gynäkologen

Frauen müssten die Möglichkeit haben, „den belastenden Eingriff wohnortnah durchführen zu lassen“ Foto: imago/ITAR-TASS

Anfang Februar sorgte eine Personalie in Niedersachsen für große Aufregung: Ein Abtreibungsgegner war zum Chefarzt der Gynäkologie an der Dannenberger Elbe-Jeetzel-Klinik berufen worden. Überregio­nale Medien berichteten über den Mann, der seiner Abteilung Schwangerschaftsabbrüche untersagt hatte. Nach wenigen Tagen öffentlicher Proteste sprach der Klinikbetreiber, der schwedische Capio-Konzern, ein Machtwort: Abtreibungen sollten ab sofort wieder erlaubt sein, der Chefarzt würde „mittelfristig“ die Klinik verlassen. Zwei Monate lang hatten ungewollt Schwangere bis zu 40 Kilometer zur nächsten Klinik fahren müssen. Der Landrat des Kreises war, nach seinen Worten, „irritiert“. Niedersachsens Gesundheitsministerin Cornelia Rundt sagte, Frauen müssten die Möglichkeit haben, „den belastenden Eingriff wohnortnah durchführen zu lassen“.

Gut möglich, dass Anne Coßmann-Wübbel in Lingen, einer Kleinstadt ganz im Westen Niedersachsens, zu diesem Zeitpunkt einer Frau erklärte, wie weit sie es zur nächsten Abtreibungsklinik hat. 80 bis 100 Kilometer. Oder 150 Kilometer, wenn sie direkt an der holländischen Grenze wohnt. Das war hier immer schon so. Kein Landrat, keine Gesundheitsministerin hat sich je dazu geäußert, kein Journalist hat berichtet. Vielerorts in Deutschland weigern sich Ärzte, Abtreibungen vorzunehmen.

Coßmann-Wübbel, Jahrgang 1958, berät seit 16 Jahren Frauen, die ungewollt schwanger sind. Von ihr brauchen sie die Bestätigung, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Abbruch haben beraten lassen. Das schreibt der lange umkämpfte Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs vor. Jetzt, vier Wochen nach der Aufregung um den Dannenberger Chefarzt, sitzt die Sozialarbeiterin in einem Büro des Diakonischen Werks in Papenburg an der Ems.

Mit drei Kolleginnen ist sie gekommen, um über die Situation ihrer Klientinnen zu berichten. 15 Minuten zu Fuß am Kanal entlang sind es zum nächsten Krankenhaus, vorbei am Büro des CDU-Ortsverbands. Bei den Bundestagswahlen 2013 gingen 60 Prozent der Zweitstimmen im Emsland an die CDU. Die Klinik ist katholisch. So wie alle Kliniken hier. Und die machen keine Abbrüche. Die niedergelassenen Ärzte auch nicht.

Eine Tagesreise zum Arzt

Das Emsland, ein Landkreis so groß wie das Saarland, ist nur eine von vielen Regionen, in denen Frauen einen guten Tag unterwegs sind, wenn sie eine Schwangerschaft abbrechen wollen. In einem Radius von 100 Kilometern und mehr gibt es in mehreren katholisch geprägten Landstrichen keinen Arzt, der sie behandelt. Ohne Auto müssen sie vor und nach dem Eingriff stundenlang im Zug sitzen, manche mehrfach umsteigen oder für die letzten Kilometer ein Taxi nehmen, weil kein Bus fährt. Für viele ist das ein finanzielles Problem: Frauen mit niedrigem Einkommen bekommen zwar vom Land die Kosten für den Eingriff erstattet, nicht aber die Fahrtkosten.

„Wer eine Schwangerschaft abbricht“, heißt es im Paragraf 218 StGB, „wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Bis heute ist eine Abtreibung in Deutschland eine Straftat, falls keine der in Paragraf 218a festgeschriebenen Ausnahmen greift. So ist ein Schwangerschaftsabbruch unter anderem dann nicht rechtswidrig, wenn Frauen innerhalb von zwölf Wochen abtreiben, aber nur, wenn sie sich mindestens drei Tage zuvor haben beraten lassen. Der umstrittene Kompromiss wurde 1995 verabschiedet.

Schwer wiegt auch – und das trifft auch diejenigen, die es nicht so weit haben: Die Frauen sind auf Hilfe und damit auf Mitwisser angewiesen. Denn Kliniken und Praxen verlangen, dass Patientinnen, wie nach jeder Vollnarkose, in Begleitung nach Hause fahren. Manche bestehen sogar auf einem Heimtransport im Auto. Viele Frauen müssen noch eine weitere Partei einweihen: 60 Prozent der Abtreibenden haben Kinder, manche müssen betreut werden.

„Viele sind verzweifelt, wenn ihnen das klar wird“, sagt Anne Coßmann-Wübbel, die Beraterin aus Lingen. Weil sie gehofft hatten, den Abbruch heimlich vornehmen lassen zu können, ohne sich rechtfertigen zu müssen. 195 Frauen beraten Coßmann-Wübbel und ihre Kolleginnen vom Diakonischen Werk jährlich, in Lingen, Papenburg und Meppen – sowie in Nordhorn, im Landkreis Grafschaft Bent­heim im südwestlichen Zipfel Niedersachsens. Dort gab es bis 2007 ein kommunales Krankenhaus. Dann wurde es mit einer katholischen Klinik fusioniert. Ähnliches geschah 2016 im Landkreis Schaumburg in Niedersachsen. Dort hatte der evangelikale Agaplesion-Konzern die kommunale Klinik übernommen. Abtreibungen sollten in dieser nicht mehr stattfinden. Nach öffentlichen Protesten erklärte sich die Geschäftsführung bereit, ausnahmsweise von der Konzernlinie abzuweichen.

Kaum einer Frau sei vorher klar, wie weit sie fahren muss, erzählt Coßmann-Wübbel. Denn sie kann im Internet zwar nachsehen, wo sie Beratungsstellen findet, nicht aber Ärzte, die die Abtreibungen durchführen. Es gibt nur die Übersicht eines österreichischen Arztes. Sie ist unvollständig und wird nur unregelmäßig aktualisiert.

In grob anstößiger Weise

Dass Behörden – mit Ausnahme der Stadt Hamburg – und Ärzte nicht öffentlich sagen, wer abtreibt, liegt daran, dass sie mit Strafanzeigen von Abtreibungsgegnern rechnen müssen. Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs verbietet, für den Eingriff zu werben: „Wer öffentlich seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Rechtspopulisten wollen uns einheitlich und schwach: als deutsche, heterosexuelle Frau und Mutter. Wir halten dagegen: Wir sind People of Color, muslimisch, migrantisch. Wir sind hetero, queer, divers. Wir sind viele. Und wir sind stark.

Lesen Sie am 8. März 11 Sonderseiten der taz zum Internationalen Frauen*tag. Mit Texten u.a. von und mit: Christa Wichterich, Hengameh Yaghoobifarah, Amina Yousaf, Judy Gummich.

Dabei sei eine Information keine Werbung, erklärt die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel. Sie hat 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Freistaat Bayern gewonnen, der ein eigenes, rigideres Abtreibungsgesetz erlassen hatte. Heute vertritt sie Ärzte, die sich gegen Klagedrohungen wehren. Wie erfolgreich sie sind, lässt sich ausgerechnet auf der Homepage des Mannes nachlesen, der die Ärzte anzeigt. Wenn nicht die Staatsanwaltschaften die Verfahren einstellen, dann spätestens die Gerichte.

Dennoch bleiben Informationen für Betroffene schwer zugänglich. Frauen sind von Mittlerin wie Ärzten oder den staatlich anerkannten Beratungsstellen abhängig. Von Letzteren gibt es allein in Niedersachsen 235. Daher beschränkte sich diese Recherche auf ein Bundesland: Die größten Träger der Beratungsstellen in Niedersachsen, Pro Familia, das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche und Donum Vitae, eine katholische Laienorganisation, hat die taz angeschrieben. Aus allen Landkreisen kamen Antworten.

Danach gibt es auch in Cloppenburg, Vechta und Diepholz keine Möglichkeit, eine Schwangerschaft abzubrechen. In wenigen Ausnahmefällen behandeln niedergelassene Ärzte – aber nur eigene Patientinnen.

Es gibt noch weitere Einschränkungen

In den meisten Regionen, auch das ein Ergebnis der Recherche, ist die Wahlfreiheit stark eingeschränkt. In der Regel wird nur der chirurgische Abbruch angeboten – und der nur unter Vollnarkose. Für Alternativen müssen Frauen aus dem Nordwesten nach Bremen fahren, ins Medizinische Zen­trum von Pro Familia. Dort können sie auch den medikamentösen Abbruch oder eine örtliche Betäubung wählen. Seit Jahren kommen 50 Prozent der Patientinnen, die die Tagesklinik in einer alten Villa in einem gutbürgerlichen Stadtteil aufsuchen, aus Niedersachsen. 2015 und 2016 waren es sogar noch mehr. In diesen Jahren stieg auch die Gesamtzahl der Abbrüche in der Klinik – während die Raten bundesweit kontinuierlich sinken.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Kliniken und ÄrztInnen gemacht? Schreiben Sie uns an ­abbruch@taz.de

Viele Ärzte operieren zudem nur bis zur zehnten Schwangerschaftswoche: Ab diesem Zeitpunkt sehen die drei Zentimeter großen Föten deutlicher nach Mensch aus – und nicht mehr „wie eine Bohne mit Arm- und Beinansätzen“, wie es eine Gynäkologin beschreibt. Je früher der Abbruch stattfinden soll, desto leichter ist es, einen Arzt dafür zu finden. Laut Gesetz dürfen Ärzte die Teilnahme an einem Schwangerschaftsabbruch verweigern.

An Pro Familia in Bremen können sich Frauen bis zur 14. Woche wenden – so lange ist der Abbruch erlaubt. „Seit der Empfängnis“ heißt es in Paragraf 218, dürfen „nicht mehr als zwölf Wochen vergangen“ sein. Mediziner rechnen die Schwangerschaftswochen aber vom ersten Tag der letzten Regelblutung an, also zwei Wochen früher.

Es gibt noch weitere Einschränkungen. Viele Krankenhäuser bestehen darauf, dass Patientinnen zweimal kommen – erst zum ärztlichen Vorgespräch und dann zum eigentlichen OP-Termin. Und manche geben Wartezeiten von drei bis vier Wochen an.

20 Ärzte ohne Nachfolger

Anrufe bei Landesverbänden von Pro Familia und bei Beratungsstellen in anderen Bundesländern zeigen, dass die Rechercheergebnisse aus Niedersachsen exemplarisch sind. Häufig haben Frauen nur in den Großstädten Wahlfreiheit. Besonders prekär ist die Lage in Bayern. Dort verweigern sogar kommunale Kliniken den Eingriff. Das geht aus der Antwort auf eine Anfrage an die bayerischen Landes­regierung hervor, die die Grünen-Landtagsabgeordnete Verena Osgyan im Jahr 2015 stellte. Darin erklärt die Landesregierung, dass es in drei von sieben Regierungsbezirken keine einzige Klinik gibt, die Abtreibungen im Leistungskatalog hat.

Auch hatte die Landtagspolitikerin versucht, herauszufinden, wo niedergelassene Frauenärzte Abbrüche anbieten. „Das ist schwer herauszubekommen“, sagt Osgyan, eine der wenigen deutschen Politikerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigt.

Das Dilemma: dass jetzt die Generation der Frauenärzte aufhört, die die Auseinander­setzungen um § 218 miterlebt haben

Nach Auskunft von Pro Familia Beraterinnen gibt es weder in Ingolstadt noch in Augsburg eine Möglichkeit abzutreiben. Auch hier haben Frauen Fahrten von 100 Kilometern vor sich. In Hessen gilt das für Fulda, in Rheinland-Pfalz für Trier.

Auch in Nordrhein-Westfalen sind Beraterinnen alarmiert. Weil hier die Kliniken fest in katholischer Hand sind, finden – wie in Bayern – nicht einmal 10 Prozent aller ambulanten Abtreibungen im Krankenhaus statt. Deshalb ist es besonders wichtig, dass genug niedergelassene Gynäkologen den Eingriff machen. Doch die werden rar.

„Abbrüche sind nicht lukrativ“

Gabrielle Stöcker arbeitet als Frauenärztin und Beraterin bei Pro Familia in Köln. Mit ihren Kolleginnen aus Nordrhein-Westfalen hat sie gezählt, in welchen Städten in den vergangenen Jahren Ärzte, die abgetrieben haben, ohne Nachfolger in Rente gegangen sind. Auf 20 kamen sie. „Das wird sich in den nächsten Jahren verschärfen“, sagt Stöcker. Dafür nennt sie mehrere Gründe, die der Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte in Deutschland, Christian Albring, bestätigt: „Schwangerschaftsabbrüche sind nicht lukrativ, und die Anforderungen an ambulantes Operieren sind hoch.“

Entscheidend sei, so sagen beide, dass jetzt die Generation der Frauenärzte und -ärztinnen zu praktizieren aufhört, die die bis in die 90er geführten Auseinandersetzungen um Paragraf 218 miterlebt haben. Die wissen, dass kein Recht auf Abtreibung erkämpft wurde, sondern Schwangerschaftsabbrüche als straffreies Unrecht behandelt werden. „Diesen Ärztinnen machen Abbrüche ja auch keinen Spaß, aber sie finden es frauenpolitisch wichtig“, sagt Stöcker.

Im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen mit gut ausgebautem Nahverkehrsnetz erscheint die Lage weniger dramatisch als etwa im Emsland. Aber auch hier gibt es ländlichere Gegenden – eine von ihnen ist die um Münster. In der 300.000-Einwohner-Stadt gibt es zwei Ärzte, die Abbrüche durchführen. Einer, sagt eine Beraterin von Pro Familia Münster, hört im nächsten Jahr auf, der andere ist dann über 80 und wird die Patientinnen des Kollegen nicht übernehmen können. Das Universitätsklinikum der Stadt teilt der taz schriftlich mit, es sei mit jährlich 80 Spätabbrüchen von behinderten Kindern bereits über Gebühr belastet.

Frauen müssen nicht nach Holland

Wenn immer weniger Kliniken und Praxen bereit sind, Abbrüche durchzuführen, dann, so befürchtet die Kölner Beraterin Stöcker, müssen Frauen länger auf einen Termin warten. Dabei wollte der Gesetzgeber ausdrücklich verhindern, dass der Fötus schon weiter entwickelt ist. „[Der] Eingriff [sollte] auch aus medizinischen Gründen so früh wie möglich vorgenommen werden können“, heißt es in der Empfehlung, die der Familienausschuss des Bundestags im Juni 1995 vor Verabschiedung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes gab.

Doch Handlungsbedarf besteht aus Sicht der von der taz befragten Gesundheitsministerien in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern, nicht. Die Pressestelle der niedersächsischen Gesundheitsministerin teilt mit: „Bisher hatte und hat auch weiterhin jede Frau in Niedersachsen die Möglichkeit, ‚wohnortnah‘ eine Klinik oder Praxis für einen Abbruch zu erreichen.“ „Wohnortnah“ steht in Anführungszeichen, weil es im Schwangerschaftskonfliktgesetz nur heißt: „Die Länder stellen ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicher.“ Keins der Ministerien beantwortet die Frage, wie viel Fahrzeit oder Entfernung die Landesregierung für „ausreichend“ hält. Alle beziehen sich auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 1993, nach dem eine Tagesreise als zumutbar gilt.

Selbst wenn Regierungen etwas tun wollten – ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Weil der Schwangerschaftsabbruch keine Kassenleistung ist, können Kliniken nicht verpflichtet werden, ihrem Sicherstellungsauftrag nachzukommen.

Grünen-Landtagsabgeordnete Verena Osgyan macht die Situation ratlos. Sie weiß nicht, wie sie die bayrische Landesregierung zum Eingreifen zwingen kann. Doch für eine Gesetzesänderung auf Bundesebene will auch sie sich nicht einsetzen. Zwar gebe es gute Gründe für eine Liberalisierung von Paragraf 218, sagt sie. Aber es sei nun mal ein mühevoll errungener Kompromiss. „Man muss nicht daran rütteln, aber man muss ihn umsetzen.“

Aber der Kompromiss, in all seiner Widersprüchlichkeit, wird umgesetzt. Frauen müssen nicht mehr nach Holland fahren. Wie und wo sie in Deutschland versorgt werden, ist dem Zufall überlassen.

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