Thomas Melle Uraufführung in Wien: Die Welt ist voller Zeichen

Ein virtuoser Sprung auf die Nachtseite der Vernunft: In Wien interpretiert Joachim Meyerhoff „Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle.

Ein karger Raum, ein Schauspieler liegt seitlich auf dem Boden.

Joachim Meyerhoff in Thomas Melles „Die Welt im Rücken“. Foto: Reinhard Werner

Was die Welt wirklich im Innersten zusammenhält? Einer, dem der Schauspieler Joachim Meyerhoff in der Regie von Jan Bosse seinen Körper leiht, versucht es zu ergründen. Auf den alten Brettern des Wiener Akademietheaters plagt er sich vor dem nackten Bühnenhintergrund samt schmutziggrauen Heizelementen mit einer Tischtennisplatte, zwei Schlägern und viel Zelluloid (Bühne: Stéphane Laimé). Im Khakioverall spielt er schon mal zwei Bälle gleichzeitig. Das muss so sein, die Ideen sprudeln, wollen geformt, geschrieben und kommuniziert sein.

Die Welt ist voller Zeichen. Sie wollen gedeutet werden, aber sie sind leer, rund und abgeschlossen wie Pingpongbälle. So wie man draufdrischt, springen sie zurück. Es ist zum Verzweifeln. Immer mehr. Immer schneller. Bis der Rausch die Verzweiflung vertreibt.

Wie bleiben die Grenzen erkennbar, die den Wahn vom kreativen Flow trennen, der die Arbeit plötzlich von der Hand gehen lässt und die ständige Angst, zu scheitern, vergessen macht? Der da zu Beginn über die Bühne hastet, bewegt sich noch im Rahmen des Alltäglichen, wirkt ungefähr wie ein leicht überforderter Vater, der seinen kleinen Kindern das Ritalin wegnascht.

Die Welt, die Meyerhoff dann aus der Imagination seiner Figur baut, wird immer bedrohlicher. Der Riss geht nicht mehr nur durch sie hindurch, sondern klafft zunehmend zwischen ihr und dem Subjekt. Aber es scheint nicht nur das Gebrechen des Letzteren zu sein, das sich da auftut. Es ist auch eines der vollendeten Marktgesellschaft, in der wir uns ständig als unique selling proposition neu erfinden, der totalen Kommunikation, in der jeder jeden ungefiltert adressieren zu können glaubt.

Romantische Idee

Madonna, Rainald Goetz, Thomas Bernhard, Ich, ich, ich! Meyerhoff haut sich einen Pingpongball mit Theaterblut gegen die Stirn, legt eine Dornenkrone aus Gafferband an, presst hektisch die Extremitäten auf einen Bürokopierer und tackert seine Abbilder zum kreuzförmigen „Ecce homo!“ an die Rückwand.

Dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, mag schon stimmen, im schlechtesten Fall kann es einen umbringen. Die Idee, dass es immer wieder Momente des Wahns sind, die dem menschlichen Geist zu tieferer Erkenntnis weitertreiben, hält Thomas Melle, der Urheber der Meyerhoff’schen Spielvorlage, für romantisch. Ist sie wohl auch. So berichtet sein autobiografisch geprägter Roman „Die Welt im Rücken“ von einer unheroischen Heldentat. Er ist ausgetreten. Nicht aus dem Geschehen einer bipolaren Störung, das geht zum derzeitigen Stand der Wissenschaft noch nicht, aber aus dem Verein der Freunde von Genie und Wahnsinn.

Stattdessen schöpft Melles Romanfigur Kraft aus der Droge Wirklichkeit, die unsere Gesellschaft denen, die aus dem Wahn erwachen, oft in nicht gerade gesundheitsfördernder Dosierung verabreicht: kaputte Berufsperspektive, kaputte Beziehung, Wohnung weg, Ausharren in der Ödnis von Schuldenregulierungsverfahren. Hat das diagnostische Konzept Persönlichkeitsstörung vielleicht auch etwas mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu tun, das informierte, rational handelnde Egoisten voraussetzt?

Ist Unbeschwertheit angemessen?

Die handgezeichnete Erklärgrafik im Programmheft gibt Auskunft über diagnostische Begriffe. Von „bipolar 1: abwechselnd manische & depressive Episoden“ bis zur mildesten Form „dysthymische Störung: chronische leichte Depressionen“. Ist das noch Wissenschaft oder schon Ideologie? Wem die gegenwärtige Einrichtung der Welt die Unbeschwertheit nicht nimmt, mag normal sein. Aber wer möchte mit solchen Immerfrohs wirklich zu tun haben?

Was treibt einen Ausnahmeschauspieler seiner Generation dazu, sich mit diesem Stoff über drei Stunden einen Wolf zu spielen? Als Meyerhoff zur Apotheose am Schluss in einer bühnenfüllenden leuchtenden Skulptur, einer Art Rieseneinzeller, verschwindet, ahnt man es. Das Wiener Publikum feiert das weltschöpfende Moment des Schauspiels. Diejenigen, die den hellsichtigen Wahn vertragen, müssen es auf sich nehmen, ihn jenseits aller diagnostischen Begriffe zu tradieren, auf dass wir alle nicht dumm sterben.

Zuletzt nährt der Abend, vielleicht sogar gegen die Intention des Autors, den Wunsch nach freundlicheren Formen einer kommenden Gesellschaft, die Überflieger sanft auffängt und Verzweifelten rechtzeitig den Schierlingsbecher wegnimmt.

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