Puzzle Frankreich war mal das Land der großen Ideale. Was ist davon kurz vor der Wahl noch übrig? Vier Geschichten aus einem zerrissenen Land
: Frankreich gibt es nicht

Illustrationen Eléonore Roedel

An jedem Rathaus sind sie in Stein gemeißelt, die Werte der Republik: Liberté, Égalité, Fraternité. Visionäres hatten die Revolutionäre 1789 formuliert – und eine Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, die ihrer Zeit weit voraus war. Was ist davon geblieben? Was wurde aus der Nation, die von ihren Bürgern geliebt oder immerhin geachtet wurde? Sie ist in Zeiten populistischer Parolen, Arbeitslosigkeit und grassierender Armut, die hier jeden Siebten trifft, nur noch eine Behauptung.

Tatsächlich ist Frankreich seit jeher ein Nebeneinander von Regionen und gesellschaftlichen Milieus. Doch jetzt, so scheint es, kommt auch noch das letzte Verbindende abhanden. 86 Prozent sehen ihr Land im Niedergang und wünschen sich eine starke neue Präsidentschaft. Und ungefähr ebenso viele halten die meisten Politiker für völlig inkompetent.

Hier sind wir zu Hause: „On est chez nous.“ Dieses Wirgefühl, dass nicht nur der Front National, sondern auch der Republikaner François Fillon und der Linke Jean-Luc Mélenchon mit seiner EU-Feindlichkeit propagieren, dieses Wir­gefühl funktioniert – auch in seiner positiven, offen gedachten Form – immer weniger. Der Nationalismus gewinnt an Kraft; und gleichzeitig fällt es den Französinnen und Franzosen immer schwerer zu benennen, was Französischsein heute eigentlich bedeuten soll.

Denn die geeinte und unteilbare Republik, „la nation, une et indivisible“, von den Hauptkandidaten Fillon, Le Pen, Macron, und Mélenchon fortwährend beschworen, hat keinen Anker mehr in der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger. Die französische Gesellschaft, so die Philosophin Fabienne Brugère, gründe stärker denn je auf Misstrauen und Konflikt. Kompromisse auf breiter Basis werden kaum mehr gesucht. Das ist die Krise Frankreichs: Es gibt keine gemeinsame, französische Erzählung. Sie ist einem Stimmengewirr sich widersprechender Bedürfnisse gewichen. Konflikte verlaufen zwischen Paris und der Provinz, zwischen überkommenem Zentralismus und Regionalismus wie etwa in der Bretagne, zwischen Besitzenden und Mittellosen aus den Vorstädten, zwischen Wahlverweigerern und Aktivisten, Nationalisten und Muslimen.


Rebellion der Kelten

Aus Carhaix Frédéric Valin

In der Brasserie schräg gegenüber dem Rathaus trifft sich das Dorf. Der Bauer, der gerade vom Feld kommt, trinkt sein Mittagsbier, der Bürgermeister eine Weinschorle, zwei pensionierte Journalisten unterhalten sich über Agrar­po­li­tik und die kommende Dürre. Es sind vor allem Männer; die Frauen stehen zumeist hinter der Bar. Halb zwölf in Carhaix in der westlichen Bretagne, es ist die Zeit des Aperitifs.

„Ich bin fast so sehr militanter Europäer, wie ich militanter Bretone bin“, sagt der Mann am Tresen, zwei Meter groß, breit wie ein Baum. Hervé le Borgne, 71, hat die Welt gesehen: Moskau, Havanna, Beirut und Bamako. „Ich habe mir einen Beruf ausgedacht, den es hier noch nicht gab: Versicherungsmathematiker“. Le Borgne berechnete Risiken für Versicherungsunternehmen.

Carhaix könnte sich anfühlen wie das Ende der Welt; noch ein paar Kilometer bis zur Küste, dann kommt nur noch Wasser, Wasser, Wasser. Aber die Bretagne ist keine Provinz am Rande des Kontinents, viele Bretonen sehen sich als eigenständige keltische Nation. Gebeutelt zwar, aber wieder dabei, sich gegen den Pariser Zentralismus zu behaupten.

„Zwei Generationen haben wir verloren, zwei Generationen, denen es verboten wurde, Bretonisch zu sprechen“, sagte Hervé le Borgne. Inzwischen aber gibt es sie wieder, die zweisprachigen Schulen, auch wenn sie kommunal finanziert werden müssen. Und vor den Rathäusern flattert nicht mehr nur die Trikolore, sondern auch das Gwenn ha Du, die schwarz-weiße bretonische Flagge. Das aber ist nur ein kleiner Trost. Die Ostbretagne ist inzwischen vollständig frankophon, und die historische Hauptstadt der bretonischen Nation, Nantes, wurde 1941 von der Region abgespalten. All das ist kein Schwelgen in der Geschichte, es sind aktuelle Themen. „Wir wollen eine Bretagne nach unseren Vorstellungen“, sagt le Borgne.

Wie weit gehen für die bretonische Unabhängigkeit? Auch hier gab es bewaffnete Separatisten, Terroranschläge, Tote. Le Borgne nickt. Er zeigt auf einen älteren Mann, der ein Lächeln im Gesicht trägt, das ihm etwas seltsam Entrücktes gibt. Der sei, sagt le Borgne, wegen Terrorismus verurteilt worden, 30 Jahre. Nach drei Jahren sei er wieder rausgekommen, Generalamnestie.

Was le Borgne selbst in jener Zeit gemacht hat, dazu zuckt er nur mit den Schultern. Aber es gebe sie noch, die Waffendepots, und es gebe auch noch jene, die lieber mit dem Gewehr als mit dem Wort kämpfen wollten. „Aber ich nicht“, sagt le Borgne. „Ich glaube nicht an Gewalt.“

Und wenn Marin Le Pen gewinnt? Die französische Rechte steht hier für alles, was hassenswert ist an der Republik: frankophone Monokultur, Oppression, Großmachtfantasien. „Wir sind ein kolonialisiertes Land, aber ich mache mir nichts vor, es wird keine Unabhängigkeit geben. Dafür ist die Bretagne zu wichtig: als Marinebasis, als Lebensmittelkammer.“ Eine Revision des Vertrags von Vannes sei illusorisch. Dieser besiegelte 1532 die Union beider Länder. Worauf hoffen die Bretonen? Nur auf eines: Europa. Denn einzig Europa kann Paris im Zaum halten.

In der Faschosphäre

Aus Lyon Christian Jakob

Wohlhabend, bürgerlich, tradi­tions­be­wusst bis ins Mark – so ist Lyon. Nirgends im Land sind die Identitären so stark wie hier. 2011 hat die neonationalistische Jugendbewegung im Altstadtviertel Saint-Jean eine Bar namens La Traboule eröffnet. „Faschosphäre“ nennt Buzzfeed den Ort, nachdem ein Reporter im Februar Identitären und Anhängern des Front Na­tio­nal im Traboule zuhörte, wie sie über die „Vernichtung der Araber“ fantasierten.

Man kann die Génération Identitaire Lyon nicht fragen, wie sie sich diese Vernichtung vorstellen. Über Wochen gibt es die immer gleiche Antwort: Erst nach dem zweiten Wahlgang werde man mit der Presse sprechen.

Mittlerweile ist das Traboule ein großes Zentrum – Boxklub, Kino, Kongressraum, Bibliothek, Festsaal und De­vo­tio­na­lien­shop. Das Ganze ist derart auf Mittelalterkitsch getrimmt, dass kein Zweifel bleibt, aus welcher Zeit die französische Identität stammt, die hier restauriert werden soll: vor 1789 – vor der Revolution. Für die moderne Variante der französischen Nation haben ihre glühendsten Fans offenbar wenig übrig.

8 Prozent der Lyoner sollen Muslime sein – der niedrigste Wert aller französischen Großstädte. Die 1994 eröffnete Große Moschee – augenscheinlich teuer, nüchtern, steril – steht im Stadtteil Laënnec nahe dem Autobahnring. „Versammlungen verboten“, ist auf einem Schild am Eingang zu lesen, der von schwer bewaffneten Soldaten bewacht wird. Betonmauern umgeben den Vorplatz.

Nach dem Mittagsgebet tritt Ahmad Denfer, 72, Sonnenbrille, Krawatte, grüne Bomberjacke, auf den Innenhof. Nach dem Algerienkrieg wanderte er nach Frankreich ein. Sein Leben hat der Mechaniker in Lyon verbracht, seine Familie lebt hier. Einen Pass hat er nie beantragt, obwohl er ihn bekommen hätte. „Wozu?“, fragt er. Sein Französisch ist schlecht. „Den brauch ich gar nicht. Ich liebe Frankreich, natürlich bin ich Franzose.“

Was Französischsein für ihn bedeutet? „Die Regeln respektieren.“ Viele Muslime seien da eben „schlecht erzogen“. „Deswegen sind 90 Prozent der Jugendlichen im Gefängnis Muslime“, behauptet er. Tatsächlich sollen es 70 Prozent sein.

Gibt es nicht andere Gründe? Die schlechte soziale Lage, höhere Kontrolldichte der Polizei? „Viele Kontrollen? Hier? Das ich nicht lache“, sagt Denfer. „In Algerien musst du nach jedem Kilometer deinen Ausweis herzeigen, das ist da völlig normal“, fügt er hinzu. „Ich zeige meinen Ausweis der französischen Polizei immer gern.“

Spürt er keinen Rassismus, wenn Islamhasser die Regierungsübernahme anpeilen? „Sind die Araber etwa nicht rassistisch gegen die Schwarzen?“, fragt er und schüttelt die rechte Hand, als habe er sie sich verbrannt.

Die zunehmende Unbestimmbarkeit des Französischen – für Denfer ist sie ein Vorteil. Für ihn ist es offen, besetzbar für jeden, der dazugehören will. Wie er. Französisch zu sein hat für Denfer, anders als für die Identitären, nichts mit Essenzialismus zu tun. Es ist nur eine Frage des Willens. Fühlt er sich dazugehörig in einer Stadt, in einem Land, wo der Re­li­gions­kon­flikt eskaliert?

„Schau unsere Moschee an, wie schön sie ist. Und sieh dir die Soldaten an“, er zeigt zum Eingang, „sie bewachen uns. Was fehlt uns hier?“

Eier, richtige Eier

Aus Marseille Barbara Oertel

David hat sich entschieden: Er wird an diesem Sonntag nicht zu den Wahlen gehen. Seit sechs Jahren arbeitet der Mittdreißiger in einer Bar im Zentrum von Marseille. Studenten, Trinker, eine ganzkörpertätowierte Frau mit Hund sitzen abends vor ihrem ­Pastis. Ein Afrikaner kehrt den Boden.

Obwohl David jeden Tag länger als zehn Stunden arbeitet, verdient er nur etwas mehr als den Mindestlohn, gute 1.200 Euro bleiben ihm. Er findet: „Keiner der Kandidaten ist gut für Frankreich.“ Und Frankreich sei nicht gut für ihn, sagt David. „Ich will sowieso weg von hier. Am liebsten nach Australien oder Kanada.“ Die Hoffnung, dass er eines Tages eine bessere Arbeit finden könnte, hat David verloren. Gelernt hat er allerdings auch nichts. Die Schuld sieht er bei den Politikern: „Die reden viel, aber es kommt nie was dabei raus.“ Am ehesten würde er seine Stimme dem Linken Jean-Luc Mélenchon geben. Aber niemand wisse, was dann mit Frankreich passiere. „Also wähle ich gar keinen.“

Sich der Abstimmung zu verweigern, diese Haltung können die Franzosen auf unterschiedliche Art zum Ausdruck bringen. Sie können einfach zu Hause bleiben. Sie können aber auch „weiß wählen“, also niemanden ankreuzen. Oder sie machen ihren Stimmzettel ungültig, beschädigen ihn: bulletin nul.

Auf 35 Prozent wird aktuell der Anteil der Wahlverweigerer geschätzt: der höchste Wert in der Geschichte der Fünften Republik. Von den 18- bis 25-Jährigen will nur jede/r Zweite wählen gehen. Die politische Klasse hat offenbar kein überzeugendes Angebot für sie.

Die Entfremdung ist beidseitig. Zum ersten Mal ist das politische System nicht mehr bereit, das Votum der Nichtwähler als originären Ausdruck politischen Willens anzuerkennen. „Weiße Wahl“ und bulletin nul werden am Sonntag offiziell nicht mehr als Wahlbeteiligung gewertet.

Auf die Frage, was ein Präsident denn bräuchte, hat Louic schnell eine Antwort: „Eier, richtige Eier.“ Der Mitzwanziger hat vor Kurzem eine private Hochschule für Film und Theater in Lyon abgeschlossen. Er will weiterstudieren, aber was, das weiß er noch nicht. Derzeit schiebt er Nachtschichten in einem Hotel. Umso genauer weiß er, was Frankreich fehlt: nationale Größe. Und das schmerzt ihn. Man müsse ja nur nach Russland, China und den USA schauen, das sei schon bedrohlich. Und Frankreich? „Wie ein kleiner Junge, der beleidigt in der Ecke steht und schreit, aber niemand nimmt ihn ernst“, sagt Louic. Er reise gern, aber so, wie sein Land derzeit dastehe, fühle er sich nicht wohl. „Im Ausland bin ich doch auch eine Art Vertreter meines Landes. Ich will, dass Frankreich international wieder wichtiger wird.“ Die Programme der Kandidaten seien nicht so ausschlaggebend. Louic kommt es auf die Persönlichkeit an. „Und da braucht Frankreich eben einen Präsidenten, der Eier hat.“

Für Louic scheint unter den elf AnwärterInnen auf das höchste Staatsamt niemand infrage zu kommen. Er könnte sich in das Lager der Wahlverweigerer einreihen.

Die Zeitung Le Parisien druckte dieser Tage eine passende Karikatur. Ein Mann sagt zu seiner Frau: „Bei diesen Wahlen werden die Verweigerer in Frankreich die stärkste Partei werden.“ Die Frau fragt: „Glaubst du, dass sie in die Stichwahl kommen?“

Sind Sie bereit, Ihr Kopftuch abzunehmen?

Aus Forbach Harriet Wolff

Draußen sitzen sie in einem großen Kreis zusammen. Weiße Plastikstühle, Kinder laufen herum, ein kleines Mädchen bringt einer Frau ein Gänseblümchen. In Wiesberg, einem Ortsteil der Kleinstadt Forbach nahe der deutschen Grenze, leben rund 3.000 Menschen, nicht wenige von ihnen haben Wurzeln im Maghreb. Unter den vielen jungen Leuten, die dort wohnen, ist mehr als jeder Dritte arbeitslos. 



Latifa Barek – sie will ihren richtigen Namen nicht nennen – ist Anfang 40, sie schaut über die leicht hügelige Wiese zu einem zehnstöckigen, himmelblau gestrichenen Wohnsilo, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Die studierte Kindergärtnerin zupft dem Gänseblümchen einige Blütenblätter ab. „Vielleicht wäre das Beste:Marine Le Pen als ­Präsidentin. Dann haben wir sie wenigstens hinter uns gebracht. Auch wenn fünf Jahre eine verdammt lange Zeit sind.“ Vielleicht aber halte Le Pen ja auch gar nicht so lange durch, „denn dass die Frau eine re­aktionäre Luftnummer ist, versteht sich“.

Barek, die ihr Kopftuch nur aufhat – und sie muss lachen, als sie das sagt –, „weil mir kalt ist“, bleibt Optimistin: „Le Pen wird es auf keinen Fall.“ Und wenn doch? „Dann ist das die absolute Katastrophe für unser Land.“ Die gebürtige Marokkanerin mit französischem Pass fühlt sich „den Werten der Republik nah“, doch: „Wo ist die Gleichheit, die Brüderlichkeit, wenn wir aus den Cités, den Vorstädten, der Politik total egal sind?“

Erst letztens habe sie wieder geschmunzelt, als der sozialistische Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon im Blitzlichtgewitter „48 Stunden eine Cité besucht hat“. Alle, bis auf Le Pen, schnupperten sie rein, guckten dann betreten „und faselten was von Auf- und Umbruch“. Nur gehe es letztlich immer um finanzielle Ruhigstellung der Bewohner: „Einen Schrottfernseher kriegst du sofort gratis ersetzt vom Amt, aber echte Programme gegen Arbeitslosigkeit, gegen Drogenkriminalität, die kommen nicht aus Paris.“

Dafür gebe es ständig sinnlose, autoritär durchgeführte Polizeikontrollen im Viertel.

 Ihre Nachbarin, die hinzugekommen ist, nickt. Ihr schwarzes Kopftuch liegt eng an. Sie hat drei Kinder, ist Ende 30 und sucht seit Monaten einen Job. „Ich war früher Sekretärin, aber ich hätte auch kein Problem damit, als Putzfrau in einer Firma zu arbeiten.“ Doch überall werde ihr zuerst die eine Frage gestellt: „Sind Sie bereit, Ihr Kopftuch abzunehmen?“

Der französische Staat, aber auch die Wirtschaft, brächten viele gläubige Muslime gegen sich auf: „Wo bleibt die Freiheit?“, fragt sie. Das zweite Gebot der Laizität, neben der Trennung von Religion und Staat, „das heißt doch Gleichheit aller und Respekt zwischen den Religionen. Oder irre ich mich da?“

Latifa Barek und ihre Nachbarin gehen am Sonntag nicht zur Wahl. „Wir fühlen uns nicht vertreten“, sagt Barek. Dann zupft sie dem Gänseblümchen in ihrer Hand noch eines der wenigen verbliebenen Blütenblätter ab.