Theaterfestival FIND in Berlin: Kulturaustausch statt Kunst-Mix

„Demokratie und Tragödie“ an der Berliner Schaubühne: 14 Künstlergruppen aus aller Welt waren beim Festival für Neue Internationale Dramatik zu Gast.

Eine Gruppe von Menschen steht vor einem Bühnenbild mit blauen Häusern

Ästhetisch eindrucksvoll: „Tristesses“ von Anne-Cécile Vandalem Foto: Christophe Engels

Als „Tragödie“ bezeichnet man eine Situation, in der beide Seiten recht haben – das wurde Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier in den vergangenen Wochen nicht müde zu betonen. „Auf unsere heutige Lage bezogen heißt das: Menschen, die sich für Demokratie einsetzen, haben recht, und solche, die an ihr zweifeln, haben ebenfalls recht.“

Dieser Gedanke trägt das Festivalmotto „Demokratie und Tragödie“. 14 Künstlergruppen aus Europa, den USA, aus Iran und Südamerika waren eingeladen, elf Tage lang Arbeiten zu diesem Themenkomplex zu präsentieren. Nun kann ein einzelnes Motto so viel Kunst aus unterschiedlichen Ländern nur unzureichend bündeln. Im Nachgang lässt sich aber ohne Übertreibung sagen: Die Sorge um die globalen politischen Verhältnisse treibt Theatermacher auf der ganzen Welt um.

Vielleicht ist das FIND auch deshalb ein guter Seismograf für das, was Theaterleute bewegt, weil die eingeladenen Regisseure stets auch die Autoren ihrer Produktion sind. Die Schaubühne präsentiert „Neue Internationale Dramatik“ – keine Klassiker mit zeitgenössischer Überschreibung. In den vergangenen Jahren hat das Festival immer wieder erfolgreich Künstler gezeigt, die in Berlin noch völlig unbekannt waren, die irische Gruppe Dead Centre etwa oder den Amerikaner Richard Nelson. Auch von der spanischen Extrem-Performerin Angélica Liddell hatte man in Berlin noch wenig gesehen, als sie 2014 beim FIND gastierte.

Uraufführung in Berlin

Alle drei hat die Schaubühne 2017 enger an sich gebunden – die Theatermacher zeigen diesmal die Uraufführung ihrer Stücke in Berlin oder, wie Richard Nelson, deren Europa-Premiere.

Liddells Eröffnungs-Opus ist mit Spannung erwartet worden – zum ersten Mal arbeitet sie mit einem deutschen Ensemble, dem der Schaubühne. Umso größer dann die Enttäuschung: Was die Spanierin präsentiert, ist alles andere als künstlerisch furios, gleicht eher einem routinierten Griff in die Mottenkiste des Performance-Theaters. Schon der kryptische Titel klingt verdächtig nach Bedeutungshuberei: „Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken“ heißt das Stück, in dem Liddell eine Horrorvision für Europas Zukunft herbeifantasiert.

Der Kontinent hat sich abgeschottet, alle äußeren Feinde sind umgebracht. Doch das Monströse in den Menschen sucht sich andere Ventile. Jetzt bringen sie sich gegenseitig um – oder töten aus purer Mordlust einen Hund. Liddell zitiert dazu Diderot und Rousseau und versteigt sich zu der fragwürdigen These, in der französischen Aufklärung liege schon die Ursache für das Europa von heute, das sich gegen Flüchtlinge abriegelt.

Das ist FIND als internationales und politisches Theaterfestival aus Berlin nicht mehr wegzudenken

Stühle werden zerhackt

Liddell, die sich früher live die Beine blutig schnitt und öffentlich masturbierte, steht nicht selbst auf der Bühne. Leider, denn die Schauspieler können jene exzessiven Ausbrüche der Performerin nicht annähernd imitieren. Zu sehen sind nichts als Pseudo-Provokationen: Stühle werden zerhackt, es wird im Dreck gewühlt, den Zuschauern der nackte Hintern entgegengestreckt. Ach je.

Erfrischend sind allein die Reaktionen des jungen, internatio­nalen Publikums. Noch bevor der „Hund“ alle „scheiß Zuschauer“, die das „scheiß Stück“ nicht mehr sehen wollen, zum „Abhauen“ auffordert, geht manch Gelangweilter Richtung Tür und kommentiert: „Ist halt ne scheiß Regie.“ Lässig auch der Besucher, der, als das Ensemble in Protest-Pose minutenlang hinter der Bühne verschwindet, ruft: „Wir wären dann so weit!“ Publikumsbeschimpfung funktioniert 2017 mit derart coolen Zuschauern schlicht nicht mehr.

Ein größerer Kontrast als der zwischen Liddells ausgelaugter Effektshow und den wachen, leisen Konversationsstücken von Richard Nelson (taz vom 31. 3.) lässt sich kaum denken. Der Amerikaner begleitet in seiner Trilogie „The Gabriels: Election Year in the Life of One Family“ eine fiktive Mittelstandsfamilie durch das Wahljahr 2016 – bis hin zur Stimmabgabe für Hillary Clinton.

Hyperrealistisches Kammerspiel

Nelson inszeniert die Geschichte als hyperrealistisches Kammerspiel. Die Gabriels kochen in Echtzeit ein Abendessen auf der Bühne und sprechen übers Gemüseschnippeln, über Emanzipation und über die reichen New Yorker, die den Vorort Rhinebeck, in dem sie leben, immer mehr zu einem überteuerten Luxuswohnort machen.

Auch wenn man vergeblich auf die großen politischen Auseinandersetzungen um Trump & Co wartet – Nelson porträtiert hier doch mit viel Gespür die Verlierer von Gentrifizierung und Globalisierung.

Ästhetisch eindrucksvoller, dafür inhaltlich flach ist „Tristesses“: In einer Mischung aus Grusel-Comic und Dogma-Film erschafft die Belgierin Anne-Cécile Vandalem ebenfalls eine Dystopie eines abgeriegelten Europas – jedoch mit deutlich mehr Humor als Liddell.

Ideal einer reinrassigen Gesellschaft

Auf einer imaginären dänischen Insel leben, nach der Pleite des örtlichen Schlachthofs, noch acht Menschen. Als sich Ida Heiger mit der dänischen Flagge erhängt, setzt ihre Tochter, die Chefin einer rechtsextremen Partei, vom Festland über, um den Selbstmord zu vertuschen – und den Bewohnern ihre Häuser abzuluchsen. Die Insel soll zum Ideal einer reinrassigen Gesellschaft werden und politischen Imagekampagnen dienen.

In fahlem Licht stehen vier Häuschen, darin terrorisieren die ärmlichen Gestalten ihre Mitmenschen. Im Innenraum spielen sie Film, die Bilder werden auf eine große Leinwand projiziert. Sobald sich die Türen öffnen, beginnt das Live-Theater auf der Bühne. Die Schauspieler beherrschen diesen Wechsel ebenso perfekt wie die Musiker ihre Rolle als Untote, die zombiehaft umher schlurfen und die Inszenierung mit atmosphärischen Bass-, Keyboard- und Harmonium-Klängen erst zum Grusical machen. Doch es gilt: So intensiv die ästhetische Handschrift, so plakativ die politische Botschaft.

Wenig bis gar nichts mit „Demokratie und Tragödie“ hat die neue Arbeit von „Dead Centre“ zu tun. „Hamnet“ heißt das Stück, in dem ein irischer Junge den früh verstorbenen Sohn Shakespeares spielt und aus dem Totenreich die Frage stellt: Sein oder Nichtsein?

Brechungen und Doppelbödigkeiten

Der elfjährige Ollie West meistert sein einstündiges Solo grandios – das ist umso beachtlicher, als der Abend vor Brechungen und Doppelbödigkeiten nur so strotzt. Die Zuschauer blicken auf eine Leinwand, in der sie sich selbst gespiegelt sehen. In dieser Spiegelung erscheint auch der Regisseur Bush Moukarzel als Hamnets Vater und interagiert mit dem Jungen. Der tote Hamnet bewegt sich also real über die Bühne – die lebenden Zuschauer sind in den Spiegel verbannt. Zueinander können sie nicht kommen.

„Dead Centre“ sind zwar sehr ins Theater als technische Zaubermaschine verliebt – doch alle Tricks verfolgen stets große philosophische Fragen um Realität und deren Überschreitung, um Vergänglichkeit und Loslassen.

Man mag „Hamnet“ zu pathetisch finden – und das eine oder andere Gastspiel sogar misslungen. Dennoch: Das FIND als internationales und politisches Theaterfestival ist aus Berlin nicht mehr wegzudenken. Das liegt auch daran, dass es inzwischen ein Solitär in der Stadt ist – spätestens seit das Performance-Festival „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele 2016 eingestellt wurde. Man muss Thomas Ostermeier beipflichten, wenn er mit Blick auf die Kulturpolitik fragt: „Wo ist das internationale Theater in Berlin? Wo gibt’s die großen Gastspiele?“

Nicht der für den globalisierten Markt zugeschnittene Kunst-Mix, den womöglich Chris Dercon bald an die Volksbühne holen wird, fehlt. Es mangelt an internationalen Kultur-Patenschaften, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten markieren. Internationaler Austausch bei gleichzeitiger Kontinuität des deutschen Ensemble-Theaters – mit diesem Konzept steht die Schaubühne in der Hauptstadt allein auf weiter Flur.

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