Gutachten im NSU-Prozess: Nun also gestört

Seit vier Jahren läuft der NSU-Prozess. Kurz vor Schluss ändert Beate Zschäpe ihre Strategie – und will plötzlich vermindert schuldfähig sein.

Beate Zschäpe wirft den Kopf nach hinten

Beate Zschäpe will plötzlich nur aus Abhängigkeit gehandelt haben Foto: reuters

MÜNCHEN taz | Es ist Prozesstag 361. Wieder sitzt Beate Zschäpe an diesem Mittwoch auf der Anklagebank im Saal A101 des Oberlandesgerichts München. Erste Reihe, ganz nah an der Richterbank. Die braunen Haare fallen offen, sie trägt eine graue Strickjacke und einen grau melierten Schal. Das Bild ist vertraut, seit fast genau vier Jahren wird hier nun verhandelt. An diesem Tag aber will Zschäpe noch mal ein neues Bild von sich zeichnen.

Vor der 42-Jährigen sitzt Joachim Bauer, ein Psychiater aus Freiburg, gerade emeritiert. Und der wird über Stunden nicht müde, darzustellen, wie Zschä­pe über Jahre angeblich von ihrem Partner und Untergrundkumpan Uwe Böhnhardt malträtiert wurde: Mal schlug dieser sie ins Gesicht, mal trat er ihr in den Bauch oder Rücken. Mal boxte er ihr aufs Ohr, sodass sie anderthalb Tage taub war. Mal würgte er sie, dass sie „Todesangst“ erlitt.

Und trotzdem, sagt Bauer, habe Zschäpe Böhnhardt nicht verlassen können. Weil, so habe sie es ihm gesagt: „Ich wollte, dass er bei mir bleibt.“ Bauers Schlussfolgerung: Zschäpe sei krankhaft abhängig von Böhnhardt gewesen, sie weise eine „hochpathologische Dependenz“ auf. Sie könne damit nur vermindert schuldfähig sein.

Bauer ist vor allem als Autor von Bestsellern bekannt, über den freien Willen etwa oder „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“. Als Gerichtspsychiater kannte man ihn bisher nicht. Nun aber soll er Zschäpe retten. Fünf Mal hatte Bauer Zschäpe auf ihren Wunsch in der JVA Stadelheim besucht. Heraus kam ein 57-seitiges Gutachten, das Bauer am Mittwoch vorstellt.

Radikale Wende kurz vor Schluss

Es ist das jüngste Manöver Zschäpes im NSU-Prozess, vielleicht auch das letzte. Nach vier Jahren steuert das Mammutverfahren tatsächlich auf die Plädoyers zu. Die aber lassen wenig Gutes erwarten für die Hauptangeklagte. Wegen zehnfachen Mordes ist Beate Zschäpe angeklagt, auch wegen zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen des Nationalsozialistischen Untergrunds. Die Bundesanwaltschaft sieht sie als vollwertiges Mitglied der Terrorgruppe. Wird Zschäpe dafür verurteilt, hieße das lebenslange Haft, mit besonderer Schwere der Schuld.

Es ist das, was die Hauptangeklagte offensichtlich verhindern will. Ihre erste Strategie: eisernes Schweigen. Keine Einlassung machte Zschäpe, als sie 2011 festgenommen wurde. Kein Wort verlor sie auch im Prozess.

Die Bundesanwaltschaft sieht Zschäpe als vollwer­tiges Mitglied der Terrorgruppe. Wird sie dafür verurteilt, hieße das lebenslange Haft, mit besonderer Schwere der Schuld

Im Dezember 2015 dann die radikale Wende. Zschäpe sagte doch aus. Über ihren neuen Anwalt Mathias Grasel ließ sie alle Anklagevorwürfe bestreiten. Ihre drei Altverteidiger hatten ihr davon abgeraten. Zschäpe aber fühlte sich offenbar in der Defensive. Alle NSU-Taten gingen auf das Konto von Böhnhardt und Uwe Mundlos, teilte sie damals mit. Sie habe immer erst im Nachhinein davon erfahren, sei „ausgeflippt“ – und konnte die weiteren Taten doch nicht verhindern.

Nun ist es wieder anders. Zschäpe will vermindert schuldfähig sein. Gutachter Bauer geht dafür bis weit zurück in ihre Kindheit. Von „Bindungsstörungen“ und „frühkindlicher Vernachlässigung“ sei diese geprägt gewesen, sagt er. Aufgewachsen bei der Oma, der Vater unbekannt, die Mutter arbeitslos und alkoholkrank, mit ständig wechselnden Partnern. Die erste Beziehung hatte sie zu einem kriminellen 20-Jährigen, mit dem Zschäpe Diebstähle beging. All dies habe „Spätfolgen“ gehabt, sagte Bauer.

Wer wen im Griff hatte

Zschäpe selbst hebt bei den Ausführungen ihren Blick nicht vom Tisch, versteckt sich hinter ihren vors Gesicht gefallenen Haaren. Auch als Bauer über ihre Beziehung zu Uwe Böhnhardt spricht. Ihm habe sie „keine Luft gelassen“, eine ständige Trennungsangst verspürt, so der Psychiater. Das Untertauchen 1998 sei da fast eine Erlösung gewesen für Zschäpe: „Jetzt habe ich ihn.“ Trotz der bereits erfolgten Schläge.

Die Anlässe für die Gewalt seien banal gewesen, sagt Bauer. Mal habe Zschäpe das Haus nicht verlassen sollen, mal die falschen Fragen gestellt. Einmal habe sich Mundlos dazwischengestellt, es sei zu einer Prügelei mit Böhnhardt gekommen. Mundlos sei darauf zwischenzeitlich ausgezogen – zu Thomas R., einem Chemnitzer Neonazi. Der hatte dies vor Gericht noch bestritten.

Über die Misshandlungen durch Böhnhardt habe Zschäpe verdruckst und gequält berichtet, berichtet Bauer. „Ich musste es ihr aus der Nase ziehen.“ Das spreche dafür, dass sie ihn nicht habe manipulieren wollen. Ihre Ausführungen seien „in hohem Maße glaubwürdig“.

Und Bauer geht noch weiter. Er treibt das Bild der hilflos Fremdbestimmten auf die Spitze. Zschäpe sei ihren „rechtsradikalen Verführern“ erlegen gewesen, sagt er. Die Untergrundzeit sei für sie einer „verschärften Geiselhaft“ gleichgekommen, sie habe unter „extrem starkem inneren und äußeren Druck“ gelitten. Deshalb die verminderte Schuldfähigkeit. Die würde einen Strafnachlass für Zschäpe bedeuten.

Bauers Bild ist das, das auch Zschäpe schon im Dezember 2015 von sich zeichnete: das des Opfers. Nur: Dagegen stehen Schilderungen früherer Begleiter und Szenefreunde, die Zschä­pe als selbstbewusst schilderten. Sie habe das Trio „im Griff“ gehabt. Dagegen stehen auch ihre Attacken gegen ihre Altverteidiger, die sie wiederholt loswerden wollte.

Maßgeblich bleibt ein anderes Gutachten

Und warum verschickt Zschä­pe noch nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos die Bekenner-DVD des NSU, wenn sie da doch nicht mehr abhängig war? Schließlich: Warum gibt die Angeklagte erst jetzt, kurz vorm Urteil, ihre angebliche Erkrankung preis?

Richter Manfred Götzl lässt sich vorerst nicht anmerken, was er von Bauers Vortrag hält. Aber er gab einen Fingerzeig im Vorfeld. Nicht als Sachverständigen wollte er Bauer anfangs anhören, sondern als einfachen Zeugen. Götzl reichte es offenbar, zu hören, was Zschäpe Neues in der U-Haft berichtete – und nicht, was Bauer fachlich schlussfolgert.

Opferanwalt Mehmet Daimagüler legt sich fest: „Das Gutachten überzeugt nicht.“ Dieses sei oberflächlich und widersprüchlich. „Man merkt, dass es in kurzer Zeit erstellt wurde.“

Maßgeblich bleibt vorerst ohnehin ein anderes Gutachten – das ein völlig gegensätzliches Bild von Zschäpe zeichnet. Das des Aachener Psychologen Henning Saß, dem vom Gericht bestellten Gutachter. Voll schuldfähig sei die Angeklagte, legte sich der Professor fest. „Durchsetzungswillig“ und „manipulativ“ erscheine sie, „zuweilen fast feindselig“.

Es spreche wenig dafür, so Saß, dass sich Zschäpe gerade in einer „so dramatischen Frage wie dem Begehen einer Serie von Tötungshandlungen dem Willen der beiden Lebenspartner gebeugt hätte“.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

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