Theatertreffen in Berlin: In die Fenster schauen

Nicht wissen, wie es weitergeht: Diese Angst verbindet die ersten Gastspiele des Theatertreffens von Simon Stone und Kay Voges.

Ein Haus auf der Bühne, außen schneit es, durch drei Fenster schaut man nach innen, viele Leute dort

Das Haus der „Drei Schwestern“, aus dem die Schwägerin vertrieben wird Foto: Sandra Then

Alles dreht sich. Erzeugt Rausch, erzeugt Schwindel. Zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Bilder, Welt, Nachrichten, alles fliegt vorbei. Fliegt vorbei, ist nicht zu fassen und wiederholt sich. Ist viel zu viel, und dreht sich doch in Loops, in Schlaufen, zieht sich eng zusammen. Beschleunigt und fühlt sich doch an wie Stillstand.

Ja, was ist das jetzt? Ein Staunen darüber, was sich verbindet in den ersten Inszenierungen, die seit Samstag auf dem Theatertreffen in Berlin zu sehen waren. Es ist ein Haus mit vielen Fenstern und verschachtelten Zimmern, das sich in den „Drei Schwestern“ von Simon Stone dreht und dreht im letzten Akt, während es leer geräumt wird von den Schwestern und den vielen sie umgebenden jungen Männern, die oft selbst nicht wissen, in welchem Beziehungsstatus sie sich gerade zu Olga, Mascha und Irina befinden (Schauspielhaus Basel).

Das Berliner Theatertreffen geht noch bis 21. Mai. Viele Gastspiele sind ausverkauft. Doch zum Festival gehört auch ein Public Viewing im Sony Center, mit Aufzeichnungen der Inszenierungen durch 3sat. Dort ist am 12. Mai 2017, 18:00 Uhr, „Drei Schwestern“ zu sehen.

SA 13. Mai 2017, 16:00 Uhr „89/90“ von Claudia Bauer aus Leipzig.

SO 14. Mai 2017, 16:00 Uhr „Traurige Zauberer“ von Thom Luz, Staatstheater Mainz.

Es ist eine Kamera, die unentwegt, drei Stunden fast, um einen Komplex labyrinthischer Räume kreist in Kay Voges „Borderline Prozession“ und dieses gleitende Schauen in alle Räume und ihr immer merkwürdiger werdendes Leben über den Blick in die einzelnen Kammern legt (Schauspiel Dortmund). Und es ist ein winziges Stückchen Text, eine idiotische Quizshow – „Claire, errate das Wort, an das Jerry jetzt denkt“ – und jedes Mal ist das Wort falsch –, was Forced Entertainment in „Real Magic“ 10-, 15-mal, ach man hört zu zählen auf, wiederholt (von 9 koproduzierenden Häusern).

Von Neugierde zu Mitgefühl

Jeder Regisseur der zehn Inszenierungen, die eine Kritikerjury ausgesucht hat, kommt zum Publikumsgespräch, auch das gehört zum Theatertreffen. Simone Stone, in Australien aufgewachsener Schweizer, erinnerte sich an einen Besuch in Amsterdam, wie ihn die gardinenlosen Fenster anregten, sich das Leben in den Häusern vorzustellen, die Gleichzeitigkeit von allem, was nebeneinander passiert. Bei ihm wird aus der Lust am Zuschauen, neugierig erst wie ein Forscher am Leben dieser Wohlstandskinder interessiert, am Ende ein emphatischer Schwall, ein glühendes Mitgefühl, auch für die Idioten.

Abgeklärt taten die vielen jungen Leute in seinen „Drei Schwestern“ zwei Akte lang, cool und wissend, angeödet auch von sich selbst und der eigenen Unentschiedenheit, ja, was mach ich denn aus meinem Leben? Poser sind unter ihnen und Arschlöcher auch. Aber wie sie dann verzweifeln im letzten Akt, in Wut geraten über sich und andere, und dabei alles aus dem Haus, das sich die eine, die Schwägerin Natascha, die unter ihnen nie willkommen war, unter den Nagel gerissen hat, wegtragen müssen, da wachsen sie einem Herz, erschrickt man über ihre Ratlosigkeit, leidet mit ihren Ängsten.

Durch ein unaufgeräumtes Hirn geht dieser Trip, es könnte das eigene sein

Von diesem Punkt aus verändert sich, was man vorher sah, als die Texte vorbeirauschten, Natascha Männer verführte, Irina jeden Entschluss gleich wieder bereute, ihr Bruder Andrej von großen Projekten träumte und doch nur alles Geld verspielte. Am Ende erst kennt man sie, ahnt ihre Beziehungen, ihre Nöte, denen man Anfangs in diesem hyperrealistischen Spiel zusah wie den Unbekannten am Nebentisch.

Das nie vollständige Bild

Auch Voges ist vom Zuschauen gepackt, dem Nebeneinander von Alltag, von Nachrichten, von medialen Echos, literarischen Stimmen. Er zitiert, gesprochen und als Schriftbild, Goethe, Schelling, Nietzsche, Deleuze, es geht um Erkenntnis und wie man nie das ganze Bild zusammenbekommt. Derweil entfalten sich in den Zimmern mehr und mehr kleinteilige Dramen, ein einsamer Mann verliebt sich erst und verprügelt sie später, ein Paar findet nicht zueinander, ein Mann wird überfallen, eine Frau stirbt. Erst scheint sich alles nur zu wiederholen, dann sind doch überall Veränderungen eingetreten, keine zum Guten.

Im Bordell lässt sich einer auspeitschen und bittet dabei um Verzeihung, so ziemlich für alle großen Verbrechen der Gegenwart. Napoleon (oder sein Gespenst) tritt auf, mit einem Text von Jonathan Meese, einer Huldigung an alle Lolitas, während 20 und mehr Girlie-Figuren durch alle Räume wuseln. Blues wird gespielt und Mahler, jede Musik verändert die Stimmung, den Film, den man gerade zu sehen glaubt.

Vor dem Eingang steht eine Reihe von Regeln. Nr. 5 lautet „Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben.“ „Was für ein eitler Wichser“, murmeln einmal Besucher und meinen den Regisseur, der mit dem Kamerawagen mitläuft. Ja, tatsächlich, man kann sich aufregen, was er hier an Bedeutungsvollem übereinanderstapelt und dann gleich wieder wegwischt, wie er Wissen, Bildung, Hochkultur häppchenweise einstreut, das hat etwas Großspuriges, erinnert an die Überflieger, die um die „Drei Schwestern“ herumwuseln.

Hochtunen von Stimmungen

Es gab eine Zeit, da liebten es die VJs (Visual Jays) im Kunstkontext, zu harter, minimalistischer Musik historische Bilder vom Ornament der Masse und Diktatorenauftritten einzuspielen, als trauten sie selbst nicht der Auflösung der Ich-Grenzen, der die Musik zustrebte. Was Kay Voges mit seinen Koautoren Dirk Baumann und Alexander Kerlin zusammenrührt, erinnert daran.

Und dennoch entsteht in diesem Andeuten von Geschichten, in diesem Fluten von Bildern, in dem Hochtunen von Stimmungen – auch von Panik und Bedrohung – , in den Verweisen auf Tagespolitik durchaus eine Zustandsbeschreibung, in der man sich wiederfinden kann. Das unaufgeräumte Hirn, durch das dieser Trip hier geht, könnte das eigene sein.

Wenn das Schauspiel Dortmund wieder einpackt, brauchen sie mehrere Lkws. Das Bühnenbild von Forced Entertainment hingegen wirkt, als würde es locker in einen Kombi passen. Kunstrasen zusammengerollt, drei Pappschilder, drei Vogelkostüme. Energie- und ressourcenschonend wirkt das im Vergleich, eine sympathische Zurückgenommenheit, die alles bei ihnen grundiert.

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