Küssen ist keine Sünde

VOYEURISMUS „Kommunion“ ist das Filmdebüt der jungen Warschauer Regisseurin Anna Zamecka. Darin seziert sie mit geradezu protestantischen Eifer den Lebensalltag einer dysfunktionalen polnischen Katholikenfamilie

Lange Gespräche am Telefon kennzeichnen das Familienleben in „Kommunion“ Foto: Peripher

VON Silvia Hallensleben

Mit Ola möchte man nicht näher bekannt sein, so schlecht gelaunt, wie sie mit ihren erst 14 Jahren herumzickt. Sie petzt, reißt dem kleinen Bruder missliebige Seiten einfach aus dem Schulheft und droht mit schlimmen Folgen. Und wenn sie ihm die Hausaufgaben abhört, klingt das wie ein Verhör. Auch der Vater wird zurechtgewiesen oder per Telefon aus der Kneipe zurückbeordert. Kurzum: Ola hat alle Allüren einer dauergenervten Ehefrau und Mutter, was auch in einem entsprechenden Gesichtsausdruck festen Niederschlag gefunden hat.

Ola hat es auch schwer in einer schäbigen Wohnung, wo sie zu früh Verantwortung übernehmen musste und mit Vater und dem jüngeren autistischen Bruder lebt. Auch Papa hat sich vor Olas Regime in eigene Lebenswelten zwischen Kneipe und Fernseher zurückgezogen. Bruder Nikodem liebt Fantasietiere und die Badewanne, wenn er nicht für die Schule Gebete und religiöse Lehrsätze aus dem Katechismus auswendig lernen muss (anderen Lehrstoff scheint es nicht zu geben).

Mürrische Miene

Und dann ist da noch die mit Kleinkind und neuem Mann getrennt von der Familie lebende Mutter, die ihrer Tochter am Telefon von den Speiseplänen der letzten Tage erzählt. Als sich Olas Hoffnung, sie möge zu Nikodems Erstkommunion anreisen, erfüllt und sie nach vielen Telefonaten auch persönlich im Film zu sehen ist, lässt sich ahnen, woher Olas mürrische Miene rührt. Und es wird sichtbar, dass die von ihr so erwünschte Anwesenheit der Mutter realiter die negativen Schwingungen noch potenziert. Geschildert wird das hier in einem elliptisch gedrängtem dokumentarischen Erzählbogen und dichten Bildern, wobei die zwischen dunkelgemusterten Tapeten und Papstporträt nah am Objekt klebende Kamera in der engen Wohnung den klaustrophobischen Eindruck noch verstärkt. Kleine Ausflüge ins Freie führen in Nikodems Schule, zu einem Treffen Olas mit Freundinnen und der Kommunionsfeier samt anschließendem Mittagessen draußen auf einem Platz. Dabei bleibt offen, wie weit einzelne Szenen für die Kamera inszeniert sind oder durch sie provoziert werden, etwa wenn Nikodem sich im Religionsunterricht frontal vor der Kamera auf einen Tisch legt.

Die nah am Objekt klebende Kamera verstärkt den klaustrophobischen Eindruck

Es gibt kleine, fast realsatirische Momente, etwa wenn sich in der Schule ein Lehrer mit peinlichen Postern für fromme Zwecke anbiedert. Oder ein Priester dem darin ungläubigen Nikodem bei dessen erster Beichte erklären will, warum Völlerei eines Sünde sei, Küssen aber nicht („Natürlich darf nicht jeder jeden küssen“). Meist aber sind es Nikodems wie nebenbei hingeworfene Bemerkungen, die das ansonsten nervenzehrende Hin und Her surreal kommentieren und dem Film so ganz ungekünstelt eine wunderbare zweite Ebene geben.

Kommunikation jenseits der permanenten Nörgelei gibt es in der Familie auch mit der Mutter nicht. Deshalb möchte man den beiden Kindern bald dringend eine anregendere Umgebung irgendwo außerhalb wünschen. Doch von Aufbruch ist – bis auf Beantragung einer größeren Sozialwohnung durch Ola – nichts zu spüren. Und auch der ab und zu anklopfende Sozialarbeiter scheint sich ernsthaft nur um den Bierkonsum des Vaters zu sorgen und glaubt Ola wohl nur zu gern, dass zu Hause alles in Ordnung sei. Raum für Hoffnung gibt es im Rahmen des Films nicht. So zeigt der Debütfilm der jungen Warschauer Filmemacherin Anna Zamecka – vielleicht sogar gegen ihre eigentliche Intention – ungewöhnlich deutlich, dass Familie auch beim besten Willen aller Beteiligten oft keine Lösung ist. Ein starker Film: Nur ein bisschen voyeuristisch kommt man sich bei den Einblicken ins dysfunktionale polnische Familienleben schon vor.

„Kommunion“. Regie: Anna Zamecka. Polen 2016, 72 Min.