Medienberichterstattung über Gewaltakte: Journalisten sind keine Heiligen

Eine ideale Berichterstattung bei Gewaltakten wie Terroranschlägen gibt es nicht. Das soll aber nicht heißen, dass es nichts zu verbessern gäbe.

Nahaufnahme auf Smartphone, verschiedene Apps

Eilmeldung statt Tiefe? Foto: imago/Haytham Pictures

Es gibt diesen Traum von Medien, die viel besser sein könnten, als sie sind. Es ist ein schöner Traum. Die Welt darin ist bunt und voller Karamell, die Blumen duften, und nicht einmal die Tiere fressen sich gegenseitig auf. Nur lautet die Frage dann: Wie wären solche Medien eigentlich?

Sie würden natürlich nur Wahres berichten. Journalisten wären objektive Heilige, die als einzige auf der Welt nie Fehler machen. Natürlich hätten sie eine Haltung. Die medialen Inhalte wären nie banal, aber stets verständlich und für alle interessant aufbereitet.

Die Medien würden „die Menschen“ mitnehmen und die Lebenserfahrungen aller aufgreifen, ohne dabei ihr Fähnchen in den Wind der Publikumsgunst zu hängen. Sie würden ein breites Meinungsspektrum abdecken und Berlin, Brüssel und Washington nicht für die ganze Welt halten. Es gäbe keine blinden Flecken mehr. Kein Abarbeiten an der Terminagenda des Kabinetts. Ausreichend Geld für Recherchen. Und so weiter und so fort.

Natürlich ist das alles übles Sonntagsredengesabbel. Die Frage ist: Was wäre realistisch, gemessen an den wirtschaftlichen, personellen, zeitlichen, kulturellen und sonstigen Umständen unter denen Medien tatsächlich entstehen?

Benno Ohnesorg liegt blutend auf dem Boden, Friederike Hausmann beugt sich über ihn

2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit

Wettlauf gegen die Zeit

Nehmen wir den Bereich des Liveticker-Journalismus. Er boomt. Selbst dann, wenn es nicht um ein tatsächliches Echtzeit-Ereignis wie ein Fußballspiel geht, wird mittlerweile häufig so getan, als müsste man in Echtzeit dabei sein. Etwa nach Gewalttaten, die auf den ersten Blick wirken, als könnte es sich um Terror handeln.

Dass die Weisheit des Schriftstellers Peter Glaser – „Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit“ – dabei nicht berücksichtigt wird, ist noch nicht einmal das Hauptproblem. Das Problem ist, dass der Journalismus bisweilen sogar noch schneller ist als die Informationen. Echtzeit-Journalismus nach Gewalttaten geht deshalb beinahe verlässlich schief.

2012 etwa, nachdem an einer Schule in Newtown 20 Kinder und ein halbes Dutzend Erwachsene getötet worden waren, schickte ein US-Fernsehsender schnell den Namen des vermeintlichen Täters um die Welt. Sein Foto folgte wenig später. Dieser Mann saß da gerade in seinem Büro und sah im Fernsehen, was er angeblich getan hatte. Der tatsächliche Täter war sein Bruder.

Oder nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon 2013: Damals wurden die Informationen im Minutentakt aktualisiert, und am Ende stimmten sie dann trotzdem nicht. Der Boston Globe etwa korrigierte die Zahl der Verletzten kurz nach dem Anschlag innerhalb einer halben Stunde von 46 auf 100, auf „mindestens 90“, auf 64, und landete schließlich bei etwa 130. Heute weiß man: Es wurden drei Menschen getötet und mehr als 260 Menschen verletzt.

Lieber gestern als heute

Nach dem Anschlag auf den Breitscheidplatz 2016 in Berlin wurde recht flott ein junger Mann pakistanischer Herkunft festgenommen, was dann auch prompt öffentlich wurde, weil auch die Polizei unter medialer Beobachtung angehalten ist, lieber gestern als heute Ermittlungserfolge mitzuteilen. Auch hier wusste man später: Der Mann war es nicht.

Heute müssen sich Online-Nachrichtenredakteur*innen rechtfertigen, wenn sie nicht schnellstmöglich, aber dafür möglichst dauerhaft live drauf sind, sobald irgendwo auf der Welt live etwas Aufreibendes geschieht, und Pushmeldungen verschicken wie nichts Gutes. Es ist, als hätte man ein Formel-1-Rennen zu gewinnen.

Befriedigt wird damit ein Bedürfnis, das medial erst geschaffen wurde: die Welt wie einen Krimi zu verfolgen.

Allerdings bringt diese hypereilige Berichterstattung selten Erkenntnis – sieht man mal von der Erkenntnis ab, dass man eigentlich nichts weiß. Befriedigt wird damit ein Bedürfnis, das medial erst geschaffen wurde: die Welt wie einen Krimi zu verfolgen. Der wesentliche Impuls dabei ist: Man macht das, weil es alle machen. Und weil es geht. Und weil man der Konkurrenz dieses Marktsegment nicht einfach überlassen wird. Aber nicht unbedingt, weil es auch publizistisch sinnvoll ist.

Die Echtzeitticker nach Gewalttaten sind damit eine Versinnbildlichung der Branchenmechanismen. Es geht in vielen Redaktionen um mehr Output bei höherem Tempo. Der Zeitdruck, unter dem heute journalistische Texte angefertigt werden, ist größer als je zuvor. Zugleich gibt es ein Primat der Ökonomie, das man sogar im Unterhaltungsbereich des Privatfernsehens sieht: Shows, die in der Produktion wenig kosten, dauern heute vier, fünf Stunden, obwohl sie nur Spannung für eine halbe Stunde bieten.

Viel Licht, viel Schatten

Der Journalismus von heute ist wahrlich nicht der schlechteste, den man sich vorstellen kann. Die Zahl der herausragenden Projekte, der tiefen Recherchen, der klugen Essays, der stilistisch aufregenden Reportagen ist groß. Nur hat die Medienbranche zwei Gesichter. Neben dem Tollen steht ebenso viel Unsinn: die schnell geschriebenen Wasserstandsberichte.

Die eiligst dahingeschriebenen Aufreger. Von der Versicherungsindustrie mitfinanzierte Wissenschaftsartikel. Die Recherchen im Reisejournalismus, organisiert von der Tourismusbranche. Den Journalismus des gestopften Lochs der Marke „Schnell, wir brauchen noch irgendetwas für Seite 2“. Und eben die Livetickerei zu Terroranschlägen mit immer mehr Information bei gleichzeitig wachsendem Zweifel.

Die Frage ist: Kann man gegen solche medialen Automatismen, gegen den Bullshit nichts machen? Die Antwort ist: Doch, kann man. Und es geschieht bereits. Das Schweizer Medienprojekt Republik etwa sammelt Geld mit dem Versprechen, einen Journalismus „ohne Bull­shit“ zu betreiben. Tausende spendeten schon innerhalb der ersten Tage einen Vertrauensvorschuss.

Kann man gegen solche medialen Automatismen, gegen den Bullshit nichts machen?

Interessanterweise treiben sich die Medien nicht nur gegenseitig zu allerlei Unfug an – wie etwa zu jener maßlosen Berichterstattung in der Affäre um Bundespräsident Christian Wulff, als noch die letzte Regionalzeitung einen eigenen Coup landen wollte. Sondern auch zu Kurskorrekturen.

Einer macht, die anderen ziehen mit

Es gibt tatsächlich eine funktionierende mediale Selbstregulierungspraxis. Und sie ist es, die heute sinnvoll als konstruktive Gegenöffentlichkeit zu bezeichnen wäre: Ein Umsteuern ist möglich. Es muss nur irgendeine Redaktion erst einmal vormachen – und zeigen, dass guter Journalismus auch tatsächlich am Markt besteht. Dann zieht die Konkurrenz schon mit.

Als die Liveticker nach Terroranschlägen geradezu beängstigend unglaubwürdig geworden waren, als man angesichts der Fülle an einander teilweise widersprechenden Informationen nicht mehr zusammenbrachte, was man nun wusste und was man nur glauben musste – da entwickelte die Redaktion von Zeit Online ein Format mit dem Titel „Was wir wissen – und was nicht“.

Darin fand sich genau das, was in dieser Lage der allgemeinen Unübersichtlichkeit gebraucht wurde: Angaben darüber, worüber man nur spekulieren konnte und was an Fakten wirklich feststand. Eine Karte durch den Informationsmüllhaufen.

Die Idee wurde mittlerweile von praktisch jeder deutschen Nachrichtenredaktion aufgegriffen. Und zum Teil zwar auch wieder aufgeweicht und verschlechtert – aber trotzdem: So ungefähr, dachte man da, kann das doch gehen mit der medialen Selbstregulierung. So kann das doch gehen mit der Bull­shit-Freiheit des Journalismus.

Reflexen widerstehen

Ein nächster Schritt wäre das Ende substanzloser Aufreger, nach deren Konsum man sich als User*in fühlt, als hätte man in einer Matschpfütze gebadet. Aufreger wie zum Beispiel hingeplapperte Politikerzitate, die zum Skandal aufgeblasen werden. Wie übertrumpfen wir die Empörung, von der die Konkurrenz profitiert?

Das ist einfach nicht die richtige Frage – und vielleicht muss eine neue Redaktion kommen, um zu zeigen, dass man sich auch bei kompletter Bullshit-Freiheit am Markt halten kann.

Empörung ist im 21. Jahrhundert nicht per se eine politische Tat – sondern in vielen Fällen nur ein übereilter Reflex. Da nicht mitzumachen, wäre eine zeitgemäße Form von Gegenöffentlichkeit. Ein Journalismus gegen Reflexe.

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