Hauchen und Lärmen

Hybrid Am Gitarristen Arto Lindsay zerren auf seinem neuen Werk „Cuidado Madame“ die Fliehkräfte New York und Brasilien

Hat sich selbst Gitarrespielen beigebracht: Arto Lindsay Foto: Jorge Bispo

Was hat die brasilianische Stadt Belém an der Mündung des Amazonas mit dem Concrete Jungle des East Village in Manhatten, New York, zu tun? Es sind die beiden Orte, die das Leben von Arto Lindsay geprägt haben. Als Sohn von Missionaren wuchs der Amerikaner in Belém auf – dort lauschte der 1953 Geborene Bossa Nova, Carimbó und in den späten sechziger Jahren den neuen wilden Klängen des Tropicália, die von Rio de Janeiro und São Paulo aus auch den Nordosten Brasiliens erreichten.

Als weißer Ausländer hatte er damals „die Freiheit eines Außenseiters“, sagte Arto Lindsay später über seine Jugendjahre in Belém. „Ich konnte in die Favelas gehen, um Marihuana zu kaufen, oder mit den blonden Jungs surfen gehen. Wobei ich allerdings nie ein Surfer-Typ war.“ Zehn Jahre später trat eine andere Seite des „Außenseiters“ Lindsay erstmals deutlicher zutage: Im New Yorker East Village wurde er Ende der 1970er Jahre mit seiner Band DNS zu einer der prägenden Figuren des No Wave. Lindsay, der sich das Gitarrespielen selber beigebracht hatte, mischte auch bei der Fakejazz-Formation Lounge Lizards mit, den Postpunk-Pionieren the Golden Palominos und der Funk-Pop-Band Ambitious Lovers mit, bevor er ab 1996 als Solokünstler in Erscheinung trat. Er interessierte sich zunehmend für elektronische Musik, räumte zugleich aber auch brasilianischen Einflüssen mehr Raum ein.

Eingängigkeit und Experimentierfreude, Sanftheit und Krach: Bis heute sind das die Pole von Lindsays musikalischem Kosmos. Man hätte ihm wohl längst eine bipolare Persönlichkeitsstörung attestiert und ihn weggesperrt, wäre er kein experimenteller Musiker, der sich die Freiheiten nimmt, die er braucht. Dazu gehört auch, Schaffenspausen einzulegen. Nun hat der mittlerweile 63-Jährige mit „Cuidado Madame“ sein erstes Album seit „Salt“ (2004) vorgelegt, eingespielt mit seinem alten Weggefährten Melvin Gibbs am Bass und jungen Musikern der New Yorker Jazz- und Avantgardeszene: dem Gitarristen Patrick Higgins, Schlagzeuger Kassa Overall und Keyboarder Paul Wilson.

Darauf sind elf Songs zu finden, die von lieblichen Melodien („Seu Pai“, „Pele de Perto“) bis zu atonalem Krach („Unpair“ „Arto vs. Arto“) reichen. Dazwischen liegen sperrige Hybride aus Noise und Samba, Elektronica und Tropicália („Each to Each“, „Ilha dos Prazeres“, „Tangles“), mal von einer melancholischen Akustikgitarre begleitet, mal von einer schneidenden E-Gitarre, dazu Lindsays lakonische Texte, vorgetragen in seinem charakteristischen sanften Sprechgesang: „I love my handwriting / Your name on your belly / ’til you forget your name“.

Eingebettet ist seine Stimme in langsame, gebrochene Grooves, die oft mit komplexen, von Atabaques gespielten Rhythmen unterlegt sind. Die Conga-ähnlichen Trommeln der Candomblé-Religion hat Lindsay zunächst in seiner zweiten Heimat Rio den Janeiro aufgenommen – und darüber im Studio in New York die anderen Tonspuren gelegt. So zurückhaltend wie auf „Cuidado Madame“ abgemischt, ist es aber weniger Trance-artig – wie sonst bei den Ritualen des synkretistischen Candomblé –, als dass es die eigentümlich weiche Note des Sounds unterstreicht.

Bei Arto Lindsay sind Sanftheit und Krach keine Gegensätze, sondern zwei Pole eines Ganzen

Er suche „keine Mischung“ verschiedener Stile, sondern „ein Nebeneinander: laut/leise“, hat Arto Lindsay einmal in einem Interview gesagt. Bei ihm sind Sanftheit und Krach eben keine Gegensätze, sondern zwei Pole eines Ganzen. Ole Schulz

Arto Lindsay: „Cuidado Madame“ (Ponderosa/Edel Musik)